Die diakonische Arbeit ist ein entscheidender Faktor für die Glaubwürdigkeit und das Fortbestehen der Kirche. Sozialdiakonie verbindet theologische und soziale Aspekte und macht die Kirche nahbar und relevant. Für die Zukunft wird es entscheidend sein, dieses Berufsfeld weiter zu stärken und die interprofessionelle Zusammenarbeit zu fördern.
Diakonie macht Kirche glaubwürdig
Das diakonische Engagement der Kirche für die Gesellschaft und sozial Benachteiligte ist für viele Mitglieder der Landeskirchen mittlerweile das wichtigste Motiv, weiterhin Kirchensteuern zu bezahlen und nicht aus der Kirche auszutreten – noch vor persönlichen Gründen wie dem Anspruch auf eine Beerdigung. Diakonie macht Kirche glaubwürdig und nahbar. Dies hat die Ende 2023 erschienene Studie der evangelischen Kirche in Deutschland eindrücklich aufgezeigt (1).
Die Diakonie ist seit den Anfängen der Kirche eines ihrer zentralen Merkmale. Mit ihr wird «das christlich motivierte, helfende und ermächtigende Handeln in Kirche und Gesellschaft bezeichnet. Sie ist begründet in Gottes bedingungsloser und heilsamer Zuwendung zu allen Menschen (2).» Das Wesen der christlichen Kirche zeigt sich in vier Handlungsfeldern, die sich gegenseitig bedingen und befruchtend ineinandergreifen: Neben der Diakonie gehören dazu die Feier des Gottesdienstes, die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus sowie die menschliche Nähe vermittelnde Gemeinschaft. Wo diese Erkennungsmerkmale von Kirche sich gegenseitig beleben und ergänzen, wird Gott geehrt und werden Menschen beschenkt.
Es ist offensichtlich: Das Handlungsfeld der Diakonie ist in der Kirche heute von grosser Bedeutung für ihr glaubwürdiges Mitgestalten der Gesellschaft. Diakonie wird seit jeher von unzähligen Freiwilligen in Kirchen und Projekten gelebt. Ergänzend dazu hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Berufsfeld etabliert, welches die professionell ausgeübte Diakonie in Kirchen und Sozialwerken bezeichnet: Die Sozialdiakonie. Was zeichnet dieses Berufsfeld aus und wie wird es sich weiterentwickeln?
Sozialdiakonie – auf den Punkt gebracht
Nach 15 Jahren Anstellung als Sozialdiakon ist für mich klar: Sozialdiakonie (3) ist einer der schönsten und vielseitigsten Berufe überhaupt! Er ist breit gefächert und steckt voller Möglichkeiten, die je nach Schwerpunkt und Bedürfnissen innerhalb einer Anstellung zum Tragen kommen.
Doch was macht Sozialdiakonie in der Praxis aus? Sie ist zuerst einfach einmal da. Sie sieht den Menschen. Sie nimmt sich Zeit. Sie hört zu. Sie fragt nach und geht eine zweite Meile. Sie hofft und betet mit Menschen. Sie erhebt ihre Stimme für diejenigen, die selbst nicht rufen können. Ihr professionelles Handeln ermutigt und ermächtigt mit dem Ziel, dass Jung und Alt ihren Platz in Kirche und Gesellschaft entdecken und ihre Begabungen einbringen können. Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone leisten unter anderem einen wichtigen Beitrag zur Prävention und Linderung menschlicher Not, zur Gemeinschaftsförderung, Bildung und Freiwilligenarbeit. Sie engagieren sich in der Gemeindeentwicklung, in Führungsaufgaben, in der Mitgestaltung von Gottesdiensten und der Verkündigung der Guten Nachricht der Bibel. Sie unterstützen Menschen, initiieren und begleiten Projekte, fördern Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit und die nachhaltige Erneuerung der Kirche. In diesen und anderen Aufgaben nehmen sie teil an Gottes Wirken zugunsten der Menschen aller Generationen.
Breites Berufsverständnis fördert Akzeptanz und Vernetzung
Es wird deutlich, dass dieser Beruf Schnittflächen mit allen vier kirchlichen Handlungsfeldern aufweist (siehe Grafik «Handlungsfelder der Kirche»). Das Ausbildungsverständnis der HF TDS Aarau verbindet deshalb aus Überzeugung die Fachrichtungen Theologie, Diakonie, Soziale Arbeit und Religionspädagogik. Die Verknüpfung und gegenseitige Bezogenheit dieser Fachbereiche sind ein Merkmal der Sozialdiakonie. Die staatliche Anerkennung im sozialfachlichen Bereich, die Gemeindeanimation HF, ist dabei zentral für die gesellschaftliche Akzeptanz des Berufes und nicht zuletzt eine Ressource in der Vernetzung und Kooperation mit anderen Akteuren im Sozialraum eines Quartiers oder Dorfes. Das breite Berufsverständnis ist zukunftsweisend: Eine sich im Wandel befindende Kirche wird in Zeiten des Fachkräftemangels darauf angewiesen sein, dass sie auf vielfältig einsetzbare Fachpersonen zurückgreifen kann.
So bedeutend die Sozialdiakonie für die kirchliche Aussenwirkung ist, so umkämpft ist sie bis heute mancherorts innerhalb der Institution. Sozialdiakonie blüht dann auf, wenn sie offene Gestaltungsräume und gegenseitig wertschätzende Zusammenarbeit mit den weiteren kirchlichen Berufsleuten vorfindet. Die aktuelle Erhebung der EKS zu «Sozialdiakonie in der Schweiz» (4) hält in den Schluss-Thesen unter anderem fest, dass es mehr Engagement der Kirchen braucht, um dem kommenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken, indem beispielsweise Ausbildungsgänge gefördert und die Nachwuchsförderung intensiviert werden. Das in manchen Kirchen zu beobachtende Ungleichgewicht im Stellenverhältnis zwischen Pfarramt und Sozialdiakonie (mehr Pfarrstellen) sage auch etwas über den Stellenwert des Berufsfeldes aus. Und es gebe vielerorts Luft nach oben, was die Anstellungsbedingungen der Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone anbelangt.
Die staatliche Anerkennung im sozialfachlichen Bereich ist zentral für die gesellschaftliche Akzeptanz des Berufes und eine Ressource in der Vernetzung und Kooperation mit anderen Akteuren im Sozialraum.
«Empowerment» der Freiwilligen
Wie also können sich Kirche und Sozialdiakonie weiterentwickeln, um zukunftsfähig zu sein? Betrachten wir zunächst das Verhältnis zwischen Angestellten und Freiwilligen. Sie gestalten gemeinsam Kirche. Sozialdiakoninnen sehen sich selbst und die Kirche dabei als Ermöglicherinnen. Sie führen Menschen zusammen, machen sie zu Beteiligten und zu Mitgestaltern. Sie entdecken Gaben und Ressourcen. Sie ermutigen und befähigen, diese einzusetzen. Gemeinsam wird auf diese Weise Kirche gestaltet und Sozialdiakonie gelebt: Mit Freiwilligen, durch Freiwillige. Oder, wie es in der Definition der Sozialdiakonie heisst: «Sozialdiakonie setzt sich dafür ein, dass Menschen ihren Platz in Gemeinschaft und Gesellschaft finden und aktiv mitgestalten können.»
Ergänzung statt Konkurrenz
Ein anderes prägendes Verhältnis: Die Angestellten untereinander. Das könnte so aussehen: Angestellte unterschiedlicher Kirchenberufe (5) teilen den gleichen Grundauftrag von Kirche. Alle wirken am Gemeindeaufbau mit – je mit ihrem Schwerpunkt und ihren spezifischen Kompetenzen. Alle sind offen und fähig, gemeinsam an diesem Auftrag zu arbeiten und einander zu ergänzen. Die unterschiedlichen Berufsgruppen empfinden die anderen nicht als Konkurrenz. Sie anerkennen und schätzen die Kompetenzen der anderen. So kommt es zu einem gemeinsamen, interprofessionellen und konstruktiven Wirken. In der Kirche wird es weiterhin unterschiedliche Berufe geben mit spezifischen Aufgaben und Kompetenzen. Dazu braucht es passende Ausbildungen. Gleichzeitig soll eine gegenseitige Vertretungsmöglichkeit bestehen. Grundkompetenzen braucht es daher auch für die anderen Berufsfelder. Aktuelle Bestrebungen, die Zugänge sowie auch die Durchlässigkeit unter den kirchlichen Berufen zu vereinfachen, sind aus dieser Perspektive zu begrüssen.
Wolfang Bittner hat schon vor mehr als 20 Jahren gefordert, was an sich zutiefst reformatorisch ist: «Mit finanziellen Mitteln wurde professionalisiert und an die angestellten Mitarbeitenden delegiert. Diese Delegationsspirale gilt es radikal zurückzunehmen: Was in einer Gemeinde nicht durch die Gemeindeglieder selbst geschieht, das geschieht in Wirklichkeit nicht (6).» Es ist eine eigentliche Kernkompetenz der Sozialdiakonie, genau dieses Empowerment der Freiwilligen nach Kräften zu ermöglichen, zu fördern und zu begleiten.
«Was in einer Gemeinde nicht durch die Gemeindeglieder selbst geschieht, das geschieht in Wirklichkeit nicht.»
Dazu braucht Sozialdiakonie neben sozialfachlichem Knowhow auch ein starkes theologisches Fundament. Denn es gilt, die Diskrepanz zu verkleinern zwischen dem, was unter Freiwilligenarbeit landläufig verstanden wird und dem, was ein allgemeines Priestertum theologisch beinhalten würde. Sabrina Müller (7) sagt dazu: «Theologisch gehören ein selbstständiges Vor-Gott-Treten und eine theologische Sprachfähigkeit zu einer Freiwilligenarbeit, die auch Ausdruck des allg. Priestertums sein will.» Es gilt, diese reformatorische Grundüberzeugung und Kompetenz mit den Freiwilligen ganz neu zu entdecken. Diesen Weg haben die kirchlichen Profis gemeinsam mit den Gemeindegliedern zu gehen und dazu müssen sie ausgebildet sein.
Von der Angebots- zur Ermöglichungskultur
Dieses Berufsverständnis betrifft die ganze Kirche. Sozialdiakoninnen übernehmen deshalb auch Führungsverantwortung und beteiligen sich an der Entwicklung ihrer Kirche hin zu einer «Ermöglichungskirche». Diese Ausprägung von Kirche drängt sich auch auf angesichts der sinkenden finanziellen und personellen Ressourcen der Schweizer Landeskirchen. Die mittelfristige Zukunft der Kirche wird massgeblich von Freiwilligen gestaltet und mitgeleitet – zusammen mit den (wenigen) verbleibenden Angestellten. Deren Rolle wird sich verändern: Von den Anbietenden zu den Ermöglicherinnen. Die Angestellten könnten längerfristig sogar regionale Aufgaben übernehmen und Gemeinde-Teams aus Freiwilligen vor Ort begleiten, die ihre Gemeinde im Dorf selbstständig gestalten und leben. Solche Ansätze können wir aus bestimmten Welt-Regionen in der Katholischen oder Anglikanischen Kirche bereits heute beobachten. Doch auch ein Blick ins Klettgau SH (8) zur Ref. Kirche des Kantons Schaffhausen ist erhellend: Hier wird regional und relational vernetzt gedacht und gehandelt. Schon heute gestalten Freiwillige lokale Kirche zunehmend eigenverantwortlich mit und Angestellte werden zu Freisetzenden. In Arbeit ist zudem ein Modell der «Pastoralen Grundversorgung». Ziel ist es, den absehbaren Mangel an Pfarrpersonen aufzufangen durch eine Kompetenzerweiterung der anderen kirchlichen Berufsfelder. Unterschiedliche Berufsgruppen werden als gleichwertige Partnerinnen interprofessionell zusammenarbeiten – selbstverständlich unter Einbezug der Freiwilligen, die ihre eigene Profession und Begabung ebenfalls einbringen zum Aufbau der Gemeinde.
Mehr Miteinander, mehr Sozialraumorientierung
Mehr Miteinander, mehr Ermöglichung – dazu brauchen alle kirchlichen Mitarbeitenden neue Kompetenzen. Sie sind vermehrt Pioniere, Vernetzerinnen, Coaches, Kirchenentwicklerinnen – Kompetenzen, die bereits heute an der HF TDS Aarau vermittelt werden. Weiter ist Sozialraumorientierung für die Kirche zentral. Die Sozialdiakonie kennt deshalb eine Vielfalt von Methoden aus dem Bereich der Sozialen Arbeit, um mit Menschen den Sozialraum partizipativ mitzugestalten. Eine sozialraumorientierte Kirche nimmt die Bedürfnisse und Nöte der Menschen vor Ort wahr und will ihnen begegnen – unabhängig von deren Kirchenzugehörigkeit. Für Menschen da sein, die in unserer schnelllebigen Gesellschaft nicht mehr mitkommen, die exkludiert werden. Sozialdiakone und Sozialdiakoninnen nehmen aktuelle Nöte wahr und können reagieren auf neue Formen von Armut, auf die Zunahme von Einsamkeit, von psychischen Erkrankungen, auf den Migrationsdruck.
Seit Jahren zeichnet sich ab, dass Kirche auch in ihrer Form vielfältiger werden muss, um unterschiedliche gesellschaftliche Milieus zu erreichen.
Seit Jahren zeichnet sich ab, dass Kirche auch in ihrer Form vielfältiger werden muss, um unterschiedliche gesellschaftliche Milieus zu erreichen. Wie werden neue Ausdrucksformen von Kirche erprobt, wie werden neue Gemeinschaften gegründet oder kirchliches Unternehmertum gefördert? Auch diese Themen müssen Bestandteil der Ausbildung sein und in Zukunft noch mehr Raum erhalten.
Ausblick: Einfacher, Bescheidener, mutiger
Die Kirche befindet sich mitten in einem grossen Transformationsprozess und mit ihr die kirchlichen Berufe. Wie wird die Kirche in 50 Jahren aussehen? Was wird Bestand haben und was bricht weg, weil es auch ohne geht?
Gut möglich, dass die Wiederentdeckung einer Kirche als «Bewegung» zu dieser Transformation dazugehört – bei aller Wertschätzung für die Errungenschaften der Institutionalisierung und Professionalisierung der vergangenen Jahrhunderte.
In einer Vision für die Kirche der 2020er-Jahre zeichnet der Erzbischof von York, Stephen Cottrell (9), für die anglikanische Kirche ein spannendes Bild. Er spricht von einer Kirche, die sich neu an Christus ausrichtet und sich von ihm formen lässt; die sich als Sendung Gottes in diese Welt versteht, die jünger und diverser werden muss und in der eine «kirchliche Biodiversität (10)» die Norm ist.
Zusammengehalten wird diese Vision von den drei Stichworten: Simpler – humbler – bolder. Mit einfacher meint Cottrell, dass die Kirche Ballast abwerfen und in vielen Dimensionen wieder schlanker und beweglicher werden muss. Demütig oder bescheiden soll sie werden angesichts ihres vielfachen Versagens und im Anerkennen, dass sie nicht mehr einen zentralen Platz in der Gesellschaft einnimmt. Zusammenarbeit ist deshalb geboten: Unter den verschiedenen christlichen Denominationen (ohne Grabenkämpfe) sowie mit Akteurinnen der Zivilgesellschaft. Mutiger darf die Kirche wieder werden, weil sie mit Gottes Rückenwind einer fragenden und krisengeschüttelten Welt eine gute Nachricht von Glaube, Liebe und Hoffnung mit Taten und Worten bringen darf.
Einfacher – bescheidener – mutiger: Dieser Dreiklang ist auch der Kirche hierzulande zu wünschen. Und die Sozialdiakonie? Sie wird ihren unverzichtbaren Beitrag dazu leisten, wenn sie sich in der Kirche in ihrer ganzen Fülle entfalten darf!
Christian Peyer ist an der HF TDS Aarau zuständig für den Fachbereich Entwicklung, Weiterbildung und Beratung und wirkt als Dozent für Kirchen- und Organisationsentwicklung.
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1 MiDi. (2023). Zukunft ist jetzt. S. 92.
3 Sozialdiakonie – eine Definition
4 Artikel Sozialdiakonie in der Schweiz auf der Website von Diakonie Schweiz
5 Vor Augen haben wir etwa Sozialdiakonie, Katechetik, Pfarramt, Kirchenmusik.
6 Bittner, W. (2003). Kirche – das sind wir. Aussaat.
7 Müller, S. (2019) Theologische Beiträge: Gelebte Theologie: Impulse für eine Pastoraltheologie des Empowerments. TVZ.
9 Stephen Cottrell: A Vision for the Church of England in the 2020s
10 Das wertschätzende Miteinander unterschiedlicher Ausdrucksformen von Kirche