
Warum Verunsicherung Teil des Lebens ist
Welche Auswirkungen haben Verunsicherungen auf den Dialog in unserer Gesellschaft? Auf unsere Lernfähigkeit? Auf unseren Glauben? Joël Studer erörtert im Interview psychologische Vorgänge, die zu Schwarz-Weiss-Denken führen. Er fragt nach einem gesunden Umgang mit Verlust. Und bewegt die Frage nach Verlust aus einer sehr persönlichen Perspektive.
Eigentlich müsste sich der grösste Teil unserer westlichen Gesellschaft sicher fühlen: Wir leben mehrheitlich nicht in Armut, kennenkeine Kriege und sind medizinisch auf höchstem Level versorgt. Weshalb gibt es trotzdem Verunsicherung?
Wir leben in dynamischen Zeiten. Stichworte sind etwa der Ukrainekrieg, Corona oder die Klimaveränderung. Daher ist ein gewisser Zukunftspessimismus nachvollziehbar. Der Blick auf die Geschichte ist jedoch immer auch subjektiv. So ist es objektiv schwierig abzuschätzen, ob wir aktuell mehr Grund zu Verunsicherung haben als frühere Generationen. Viele würden die Gegenwart wohl eher als Krisenzeit beurteilen – und nicht als Zeit des Aufbruchs.
Und, was unseren Wohlstand betrifft: Wer viel hat, der hat auch viel zu verlieren. Wir haben uns aber an einen immerwährenden Fortschritt gewöhnt. Nun wird Verlust als skandalös empfunden. Eine religiös geprägte Gesellschaft konnte Verluste eher noch sinnstiftend verarbeiten.
Wie reagiert das Individuum auf Verunsicherungen?
Verunsicherung führt häufig zu einer Angst vor Fehlern. Fehler lösen oft ein Schamgefühl aus. In diesem Zustand ist ein Mensch weniger lernfähig. Dauert der Zustand an, kann er zu Frustration und Ohnmacht führen. Wenn diese einen leiten, funktioniert man anders.
Auf kognitiver Ebene führen Verunsicherungen dazu, dass Risiken eher überschätzt werden. Man kommt ins Grübeln, das Problemlöseverhalten ist eingeschränkt. Eine mögliche Folge davon kann dann darin bestehen, sich nach aussen zu orientieren und Halt zu finden in vermeintlich einfachen, klaren schwarz-weiss Botschaften. Dazu aber später mehr…
Wie sieht eine positive Entwicklung bei Kindern aus? Was gibt ihnen Sicherheit?
Grundsätzlich gehören zu einer gesunden Entwicklung auch Verunsicherungsphasen – diese sind Teil der verschiedenen Entwicklungsaufgaben. In den ersten 1.5 Lebensjahren ist eine sichere Bindung jedoch zentral und beeinflusst in hohem Masse die Entwicklung der Kindheit und Jugend. Eltern, welche Zutrauen schenken und eine sichere Bindung ermöglichen, haben einen grossen positiven Einfluss auf Persönlichkeit, Sozialverhalten und Selbstkonzept ihrer Kinder.
In der Politik wird heute nicht mehr mit Fortschrittsversprechen gepunktet, sondern mit schlimmen Szenarien, die man abzuwenden verspricht.
Wie wirkt sich Verunsicherung auf das politische Klima aus?
Sie trägt bei zur Polarisierung – jedenfalls in meiner Wahrnehmung. Es gibt zwar Studien, die das nicht bestätigen, sicher ist jedoch (laut Andreas Reckwitz (1)): In der Politik wird heute nicht mehr mit Fortschrittsversprechen gepunktet, sondern mit schlimmen Szenarien, die man abzuwenden verspricht. Das ist schade, denn für unser Hirn sind hoffnungsvolle Botschaften gesünder. Mit Verunsicherung und entsprechenden Parolen lässt sich jedoch erfolgreich politisieren. Damit ist aber die Konsenspolitik in Gefahr: Die Fähigkeit, Gegenpositionen einzubinden auf der Suche nach einer Lösung. Ich plädiere dafür, sich über das «Für» und nicht das «Gegen» zu definieren. Also nicht: «Wir sind anders als jene …», sondern «Wir sind für …».
Woher kommt der Hang, solche Feindbilder aufzubauen und zu thematisieren?
Die Ursache liegt wohl in eigenen Verunsicherungen und Ängsten. Diese werden auf ein Feindbild projiziert, das man bekämpft in der Hoffnung, damit auch eigene Ängste zu besiegen. Diese Haltung führte zum Erfolg des Nazi-Regimes – und ist bis heute aktuell und gefährlich. Wir sehen: Mit Verunsicherung und Feindbildern lässt sich Macht gewinnen. Das ist problematisch, denn die Welt und ihre Probleme sind meist viel zu komplex, um sie mit der Bekämpfung von Feindbildern zu lösen.
In unserer Gesellschaft gibt es zwar Verunsicherung, aber auch viele Freiheiten. Ein Widerspruch?
Unsere Gesellschaft gibt uns viel Raum zur freien Entfaltung: Kein vorgezeichneter Weg, keine Rollenerwartungen. Die Kehrseite davon: Man muss viele Entscheidungen treffen. Man muss sich positionieren. Man muss seine Individualität, seinen speziellen Alltag darstellen. Diesen Druck gab es früher nicht, als diese Selbstdarstellungsplattformen noch nicht existierten.
Geben einfache Parolen und feste Standpunkte nicht auch ein Gefühl von Sicherheit?
Sicher – aber sie täuschen möglicherweise hinweg über die Komplexität eines Sachverhaltes. Im gesellschaftlichen Diskurs ist es schlicht nicht möglich, bei allen Themen auf dem aktuellen Stand zu sein. Wenn man – etwa in einer öffentlichen Position – gezwungen ist, sich zu positionieren, kann das enorm anstrengend sein – und wieder verunsichern.
Hier hilft es, wenn die eigene Identität gefestigt und ein Wertekompass entwickelt ist. Das bedeutet nicht, dass andere Meinungen an mir abprallen. Nein, der Wertekompass darf sich verändern. Aber er gibt mir Gelassenheit, mich zu positionieren und Entscheidungen zu treffen. Und dabei darf ich auch Fehler machen.
Wie gehst du mit Verunsicherungen im Glauben um?
Auch beim Glauben gilt für mich: Ich will nicht aus einer Angst heraus glauben. Ich will weniger auf das Übel fixiert sein (vor dem mich Gott bewahren möge), sondern mehr auf das Gute (das Gott mir schenken möchte).
Wer eine gewisse Verunsicherung nicht aushält, läuft Gefahr, eine Extremposition zu beziehen. Diese kann kurzfristig Halt geben. Längerfristig wird sie den Erfahrungen im Leben nicht gerecht werden. Das führt wiederum zu mehr Verunsicherung. Ein einseitiges Gottesbild ist dann kein Fels, sondern Sand.
Kannst du ein Beispiel geben für ein einseitiges Gottesbild?
Z. B. ein Gottesbild, in dem Verlust keinen Platz hat. In unserer westlichen Welt tendieren wir wohl dazu. Dies deckt sich jedoch nicht mit den Inhalten der Bibel: Allein ein Blick in die Apostelgeschichte zeigt z. B. klar, dass Verlust und Verunsicherung zum Leben gehören.
Verunsicherung ist nicht nur negativ. Du unterrichtest Didaktik und sagst, dass ein gewisses Mass an Verunsicherung das Lernen begünstigt. Kannst du das erläutern?
Verunsicherung gehört ganz natürlich zum Lernen dazu. Das Hirn lernt unter anderem dann, wenn neue Informationen nicht zum Vorwissen passen und bestehende Vorannahmen sich nicht bewähren. In dieser Verunsicherungsphase sucht es aktiv nach Wegen, um die neuen Informationen zu integrieren. Nur so können bestehende Denkmuster erweitert und das Verständnis vertieft werden.
Besonders effektiv geschieht das (nach Wygotski (2)) in der Zone der proximalen Entwicklung, also dort, wo man gerade so fest herausgefordert und verunsichert ist, dass man (auch mit Unterstützung von anderen – Eltern, Lehrpersonen oder Gleichaltrigen) neue Fähigkeiten erlangen kann.
Das stärkt zugleich die Selbstwirksamkeit: Man erlebt, dass die eigene (Anpassungs-)Leistung zu einer Erweiterung des Wissens- und Fähigkeitsrepertoires führt. So wird Neues nicht als Überforderung, sondern als bewältigbare Herausforderung empfunden.
Im digitalen Raum der sozialen Medien sind wir selten mit Ansichten konfrontiert, die unserer Meinung widersprechen. Damit kommt uns die Fähigkeit abhanden, neue Informationen sinnvoll zu integrieren.
Fragen wir uns also: Geben wir Kindern die Chance, an solchen Herausforderungen zu wachsen? Geben wir sie uns selber? Oder ziehen wir uns in die sichere Blase zurück? Letzteres geschieht z. B. im digitalen Raum der sozialen Medien. Wir sind dort selten mit Ansichten konfrontiert, die unserer Meinung widersprechen. Damit kommt uns die Fähigkeit abhanden, neue Informationen sinnvoll zu integrieren oder uns zumindest konstruktiv an einem Diskurs zu beteiligen.
Wie stellst du dich dieser Herausforderung?
Ich bin nicht der Typ, der ständig neue Herausforderungen sucht. Dessen bin ich mir bewusst. Also gebe ich Gegensteuer und setze mich bewusst auch Dingen aus, die mich neu herausfordern. Z. B. könnte ich es mir möglichst gemütlich machen in einer beruflichen Aufgabe und meine Arbeit jahrelang reproduzieren. Das will ich nicht, daher suche ich von Zeit zu Zeit neue Herausforderungen. Das war auch ein Grund, weshalb ich vor bald vier Jahren eine Stelle verliess, an welcher ich mich sehr wohl fühlte, und hier ans TDS wechselte.
Du hast einen Sohn. Wie setzt du das oben beschriebene Prinzip in der Kindererziehung um?
Ich suche das gute Mittelmass zwischen Fordern und Überfordern. Dazu muss ich einerseits mein Kind gut kennen, anderseits ein Grundverständnis von Entwicklungspsychologie haben. Die Grundlage ist aber, dass ich die Beziehung zum Kind pflege und stärke. Es gibt Bereiche, wo ich die Grenzen setze (z. B. Zuckerkonsum), und es gibt Bereiche, wo ich dem Kind Optionen anbieten kann (z. B. welche Jacke es anziehen möchte). Es gibt Herausforderungen, die es (noch) nicht meistern kann, und solche, die das Kind stark machen. Das kann Frust bedeuten – dann begleite ich das Kind durch diese Phase. Aber ich sollte nicht verhindern, dass das Kind Selbstwirksamkeit erfährt, indem ich ihm alle Steine aus dem Weg räume. Der Umgang mit Herausforderungen prägt das Kind bis in Erwachsenenalter.
Du hast zum Thema Verunsicherung und Verlust nicht nur einen fachlichen Bezug. Du bist ganz persönlich betroffen.
Ich habe zwei herausfordernde Jahre hinter mir. Meine Schwester erhielt vor zwei Jahren eine Krebsdiagnose und starb vor einem Jahr. Sie hinterliess ihren Mann und drei kleine Kinder.
Wie hast du persönlich die Phase der fortschreitenden Krankheit verarbeitet?
Ich versuchte einerseits, meine Hoffnung auf Besserung hochzuhalten – sei es durch medizinische Behandlung oder göttliches Eingreifen. Auf der anderen Seite schaute ich der Realität ins Auge: Eine sukzessive Verschlechterung, sowohl was die Diagnosen betraf als auch das körperliche Befinden.
Vor allem versuchte ich natürlich, den Prozess meiner Schwester zu begleiten. Für mich war klar, dass weder Schwarzmalen noch Negieren hilfreich sind.
Inwiefern prägt das Gottesbild den Umgang mit Krankheit?
Dies zeigt sich in Fragen wie: Haben Leid und Verlust Platz in meinem Glauben? Lässt Gott Krankheit zu? Verursacht er sie allenfalls sogar? Auch wenn wir keine (einfachen) Antworten haben, sollen, dürfen oder müssen wir die Fragen stellen. Lässt ein guter Gott Leid zu? Wenn wir über den Tellerrand in die Welt schauen, dann müsste diese Frage uns schon längst beschäftigt haben – auch vor einem eigenem Schicksalsschlag. Mein Gottesbild hängt nicht von meinem subjektiven Wohlbefinden ab – oder dem einer mir nahestehenden Person.
Ich denke, meine Schwester hat Gottes Nähe auch im Nahesein von Menschen und durch praktische Hilfe erfahren. Und ich bin überzeugt, dass Gott in den Momenten, wo das Elend und die Ohnmacht am grössten waren, auch da war und mit uns «ohnmächtig» gewesen ist. Weil Jesus grösstes Leid erfahren hat, kann er uns Menschen verstehen im Leid.
Bonhoeffer sagt: Nur der leidende Gott kann helfen. Gott ist nicht nur Adressat der Theodizee-Frage, sondern er stellt die Frage selber: «Mein Gott, warum hat du mich verlassen?» (Matth. 27,46 bzw. Psalm 22,2). Jesus wird in diesem Moment gewissermassen zum gottverlassenen Gott und begegnet uns am Kreuz nicht nur als Sündern und Sünderinnen, sondern auch als Leidenden (3). Diese Sichtweise habe ich neu gelernt.
Welches Gottesbild vermitteln wir als Kirche in der Jugendarbeit? Ist Gott allgegenwärtig, d. h. auch in den vermeintlich gottverlassenen Stunden da? Im Zweifel?
Wie hat dieses Ereignis deinen Glauben geprägt?
Ich stelle jetzt vielleicht noch dringlicher als früher die Frage: Welches Gottesbild vermitteln wir als Kirche in der Jugendarbeit? Ist es einseitig geprägt vom erlebbaren, heilenden, allmächtigen Gott? Oder ist Gott allgegenwärtig, d. h. auch in den vermeintlich unbedeutenden, gottverlassenen und langweiligen Stunden da? Im Zweifel? Oder doch nur bei den grossen Erlebnissen, im tollen Jugendgottesdienst, in den grossen Konferenzen, in den Momenten, wo Gott jemanden heilt? Wie vermitteln wir ein Gottesbild, das diese Breite hat? Für Jugendliche steht der erlebbare Gott im Vordergrund. Das ist verständlich und auch gut so. Aber es ist wichtig, zu vermitteln, dass der Glaube breiter ist.
Ich möchte Jugendliche (und vor allem zukünftige Erwachsene) davor bewahren, im «gewöhnlichen» Alltag nur auf das «aussergewöhnliche» Erleben aus zu sein – mit welchen spirituellen Mitteln auch immer … Falls das «Aussergewöhnliche» nämlich mal nicht eintrifft, liegt es nahe, nach ungesunden Erklärungen zu suchen (zu wenig gebetet oder Bibel gelesen …). Das wäre «religiöser» Stress und führt meiner Meinung nach in ein ungesundes, einseitiges Gottesbild.
Mir scheint wesentlich, dass wir einen Umgang finden mit Gott in der ganzen Realität des Lebens. Und diese Realität zeigt: Es gibt Leid in der Welt, auch bei Menschen, die an Gott glauben. Und mitten in diesem Leid ist die Gegenwart Gottes real.
Das Gespräch mit Joël Studer führte Matthias Ackermann. Das Interview erschien in einer gekürzten Fassung im meinTDS 2025-1 (Verunsicherung).
1 Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp, 2024. Siehe auch SRF Kultur, Sternstunde Philosophie vom 12. Jan. 2025, mit Andreas Reckwitz
2 Spielfeld Religionspädagogik, Gelber Faden, S. 29 (zu beziehen beim TDS Aarau)
3 Vgl. Martin Thoms: Der gottverlassene Gott, LIT, 2023