Beständigkeit und Bleiben: Innere Ordnung des Glaubens und Ausgangspunkt für gelingendes Leben
Eine Verortung
Beständigkeit und Bleiben: Worte, die in unserer Zeit zwar nicht besonders en vogue sind, die für mich aber gerade für das christliche Leben von heute eine verheissungsvolle Dimension eröffnen. Sie sind in der benediktinischen Tradition im Begriff der stabilitas (loci) [1] beheimatet, der dauerhaften Verbindung mit der (klösterlichen) Christusnachfolge. Das Gelübde zu dieser Beständigkeit begründet eine innere Ordnung, welche die äusseren Lebenszusammenhänge deutet und formt.
Mir scheint, diese Werte wieder aufzugreifen, könnte in unserer unbeständigen und rastlosen Zeit zu einem wegweisenden Kontrast und zu einem authentischen Christus-Zeugnis werden. Nicht als ein unerreichbares Ideal, sondern als ein Weg mit all seinen Herausforderungen. Einem Farbtupfer gleich für eine Freiheit, welche das Streben nach Selbstverwirklichung bewusst nicht zum beherrschenden Prinzip erhebt. Sich auch nicht von dem Drang nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung leiten lässt, sondern im Gegenteil dies als Freiheit erkennt, sich freiwillig dem Wort und Anspruch Christi zu verpflichten.
Mit einem solchen Fokus messe ich dem persönlichen Glauben eine lebens- und weltgestaltende Kraft und Bedeutung zu. Ein Glaube, der mein Inneres zu überzeugen und zu ordnen vermag, ermöglicht neue Perspektiven auf das Leben. Zum Beispiel diese: Die Verbundenheit mit den Menschen, die mir im Alltag als meine Nächsten begegnen, nicht als Einengung und Begrenzung sehen, sondern als eine anspruchsvolle Berufung bejahen und daran reifen. Oder die Perspektive, das Wagnis einzugehen, den quasi perfekten virtuellen Lebensräumen den Rücken zu kehren und mich bewusst und verbindlich in unperfekte, reale Beziehungen hineinzugeben in Partnerschaft, Familie und Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft und am Arbeitsplatz; hinein auch in die reale Erfahrung von Kirche und Gemeinschaft um Christi Willen.
Der Glaube ermöglicht das Wagnis, den quasi perfekten virtuellen Lebensräumen den Rücken zu kehren und mich bewusst und verbindlich in unperfekte, reale Beziehungen hineinzugeben.
Dass solche Schritte nicht unbegründet und von alleine geschehen, ist eine Realität. Und dass sie uns etwas abverlangen, weil unsere Welt so ganz anders tickt, scheint mir ebenfalls verständlich zu sein. Mit nachfolgenden Gedanken zu Joh 6,67-69 möchte ich ermutigen, immer wieder neu danach Ausschau zu halten, wie mein Glaube an Jesus Christus bewusst und begründet zu einer inneren Ordnung werden kann, die mich zutiefst überzeugt und in mir die Kraft entfaltet, mein Leben beständig und bleibend zu prägen und auszurichten. Eine solche stabilitas des Glaubens hat das Potenzial, Türen für ein gelingendes Leben in und für diese Welt aufzustossen.
Eine Grundfrage
«Wollt auch ihr weggehen?» (Joh 6,67) [2]
Diese Frage, die Jesus damals seinem engsten Jüngerkreis gestellt hat, ist aus meiner Sicht für unser zeitgenössisches Christentum auch zu einer Grundfrage geworden. Weggehen oder bleiben? Damals waren nicht wenige irritiert über den Mann aus Nazareth und dessen Inanspruchnahme der Menschen für Gott. Fassungslos über so manches Wort, das über seine Lippen kam. Irgendwie passte er nicht in das gängige Weltbild, auch nicht in ein intellektuell akzeptierbares Gottesbild. «Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir, und ich bleibe in ihm.» (Joh 6,56) Diese und andere Äusserungen standen quer zum religiösen Geschmack. Und im gesellschaftlichen Kontext wirkten sie weltfremd und galten als verwerflich. In einer grossen sachlichen Nüchternheit und Ruhe erzählt das Johannesevangelium von dieser fundamentalen Spannung, die sich mit und um Jesus ergeben hat. Und dass sich viele von Jesus abgewendet haben (Joh 6,66).
In unseren Tagen nehme ich mit Bedauern und Traurigkeit wahr, dass sich Ähnliches abspielt. Viele der Worte des Neuen Testaments irritieren – auch unter Kirchenleuten. Der universale Heilsanspruch durch Jesu Kreuzigung und Auferstehung aus den Toten, seine Himmelfahrt, Pfingsten und die Erwartung seiner Wiederkunft – all dies ist sperrig geworden für moderne Ohren. Damit ist die Frage nach dem Weggehen oder Bleiben einmal mehr grundlegend und unabdingbar geworden.
Eine wichtige Klärung
Wie auch immer wir uns entscheiden, eines ist klar: Das Weggehen ist die Antwort, die wir auf das Nicht-Bleiben-Können geben. Vielleicht auch geben müssen, weil der Glaube an den biblischen Jesus schwierig, ja zu schwierig geworden ist. Vielleicht auch, weil wir unseren Glauben nicht mehr in Einklang bringen können mit den Vorstellungen unserer Zeit. Und weil er unser Inneres nicht (mehr) überzeugt. Und dies schmerzt. Das ist nicht leicht, und es erschüttert.
Das Bleiben ist die Antwort, die das Nicht-Gehen-Wollen gibt. Einfach weil der Blick, den uns das Neue Testament auf Jesus ermöglicht, das eigene Leben zutiefst ergriffen hat und immer wieder neu existenziell bewegt und formt. Unerklärlich und geheimnisvoll ist man von Jesu Wesen, von seinen Worten und von Jesu Gang ans Kreuz angezogen. Man kann und will nicht wegschauen. Es schmerzt, dass man dabei neben dem Mainstream unserer Zeit steht. Das ist nicht leicht, und es erschüttert.
Jesus gestand seinem von ihm persönlich gesammelten Jüngerkreis damals die Freiheit zu, wieder zu gehen. Damit verbunden war aber auch die unausweichliche Zumutung, für sich diese Grundfrage zu klären. Die Zumutung, im Geschenk des Glaubens für sich begründende Gedanken, Worte und Empfindungen zu entdecken für ein überzeugtes Bleiben bei ihm. Sich gewiss zu werden, wer er für mich ist, was er mir bedeutet und wie er mein Innerstes formt.
Jesus, der Christus
«Herr, zu wem sollen wir gehen?» (Joh 6,68)
Das Wort «Herr», griechisch kyrios, verwendet die Septuaginta – die griechische Übersetzung des Alten Testaments – für das hebräische JHWH, den alttestamentlichen Gottesnamen. Und damit liegt auf der Hand, dass Simon Petrus mit dieser Anrede eines ganz deutlich macht: Nämlich, dass er sich bewusst war, mit wem er es bei dem Mann aus Nazareth zu tun hatte. Diese Worte drücken keine Verlorenheit aus – im Sinne von: wir haben ja niemanden sonst, zu dem wir gehen könnten –, sondern im Gegenteil: sie sprudeln über vor Energie und Gewissheit. Jesus, der Christus (der Messias), der Herr selbst, ist hier mitten unter ihnen. Und somit gibt es für Simon Petrus keinen besseren Ort, keine Alternative, keine vielversprechendere Option für das Leben. Er sieht Jesus an und sieht in ihm den Herrn, von dem aus alles in Zeit und Ewigkeit seine Ordnung und Bestimmung erfährt. «Du bist es! Du, Jesus, bist der Christus!»
Vielleicht gilt es für uns heute, wieder von vorne zu beginnen: Beim Bekenntnis, dass Jesus der Herr, der Christus Gottes ist für diese Welt. ER ist der Mittelpunkt. ER ist der Fixstern, an dem sich alles orientieren kann. ER ist die Sonne, die alles erhellt und erhält. «Ich glaube an das Christentum, wie ich daran glaube, dass die Sonne aufgegangen ist: Nicht nur, weil ich sie sehen kann, sondern weil ich durch sie alles andere sehen kann.» [3]
Es gilt, Jesus in seiner unvergleichlichen Bedeutung für alles, was existiert, wahrzuhaben. Er ist der «Ich bin», der Anfang und das Ziel aller Existenz. Durch das Fenster des Neuen Testaments sehen wir ihn in seiner ganzen Bescheidenheit und Würde. Wir sehen ihn in seiner ergreifenden Nähe zu den Menschen und in seiner unendlichen und unergründlichen Tiefe, wie sie nur dem Gottessohn eigen ist. Ein solches Hinschauen kann uns neu tief ergreifen und zu einem bleibenden Begreifen-Wollen im Glauben führen.
Von IHM her die Dinge bedenken.
Von IHM her die Fragen stellen.
Von IHM her das Leben Tag für Tag wagen.
Still werden, um IHN wahrzunehmen mit den Augen des Glaubens. Still werden, um IHN anzubeten als den, der alle Dinge und auch mein Leben ordnet und mir mein Dasein in dieser «Zwischen-Zeit» verordnet hat. Von IHM her die Dinge zu bedenken. Von IHM her die Fragen zu stellen. Von IHM her das Leben Tag für Tag zu wagen. «Stunde um Stunde, ja Viertelstunde um Viertelstunde, bis in die kleinsten Wartezeiten zwischen den Gebets- und Arbeitszeiten ist alles Ausverkauf an dich, Rufer, von Anfang an. Seither. Und fernerhin.» [4]
Jesu Worte
«Du hast Worte des ewigen Lebens.» (Joh 6,68)
Simon Petrus sieht sich, die Geschichte seines Volkes, ja die ganze Welt aufgehoben in den Worten Jesu. Sie sind grösser, weiter, tiefer und höher als seine eigenen Worte, als sein eigenes Denken und Fühlen. Es sind «Worte des ewigen Lebens», weil sie ewiges Leben verleihen und das Leben in ein grosses Ganzes stellen. Simon Petrus sieht Jesus an und erkennt in dessen Worten diese unvergleichliche Dimension und Wahrheit: In DIR eröffnet sich der Weg des Lebens, einmal und für immer. Auch wenn sich mein Leben verbraucht, in DIR ist es für ewig aufgehoben, geborgen, wertgeschätzt und geliebt. «Worte des ewigen Lebens»: Das ist für Simon Petrus mehr, als er ausdrücken kann, gewiss mehr als er (und wir) erahnen können. Sie eröffnen jedoch einen weiten Horizont der christlichen Hoffnung.
Und wir? Was eröffnen uns die Worte Jesu, wie wir sie im Neuen Testament lesen und darüber nachsinnen können? Prägen sie mich in meinem Sein, in meinen Entschlüssen und Handlungen? Sehe ich in ihnen das Ausserordentliche, das Besondere? Die Perlen, für die es sich lohnt, vieles zu wagen und zu verändern? Rufen diese Worte in mir etwas wach, das mich in Bewegung bringt? Suche ich sie, um sie unbedingt zu finden? Einfach, um Christus zu folgen? Und kann ich diese biblischen Worte als Gottes Wort an mich, als sein Reden zu uns erkennen? «… Ich [will] vielmehr mit allen Kräften danach frage[n], was Gott hier [in der Bibel] zu uns sagen will? Jeder andere Ort ausser der Bibel ist mir zu ungewiss geworden. Ich fürchte dort nur auf einen göttlichen Doppelgänger von mir selbst zu stossen.» [5]
Vielleicht liegt heute in besonderer Weise eine Dringlichkeit vor, die Heilige Schrift wieder «als Gottes Wort an mich» mit neuer Leidenschaft zu suchen. Die Heilige Schrift als Wort Gottes weiss mehr von mir und über mich, als ich je über sie und über die von ihr beschriebene Wirklichkeit erfahren kann. Nicht ich ergründe sie, sondern sie will mich ergründen, (be)gründen und überzeugen. Sie ist der Ozean. In ihr finde ich lebendiges Wasser. Sie trägt mich. Darum kann und will ich die Heilige Schrift ernst nehmen. Ich will zulassen und erlauben, dass sie als das göttliche Wort meinen Glauben formt und zum Ausgangspunkt für meine Lebensvollzüge umgestaltet. «Falsche Kritik [an der Bibel] haben wir dann [...], wenn wir uns zum Meister und Richter promovieren und den Herrn und seine Apostel und Propheten zu Schülern degradieren. Glaube ist unablöslich von der Einsicht in die Armut des eigenen Ichs [...]. Wo das Ich sich als Quelle und Inhalt der Wahrheit gebärdet, und nun die Schrift vor seinen Richterstuhl zitiert [...], da ist die Glaubensstellung von Grund auf aufgegeben.» [6]
Aus Glauben zu Glauben
«Wir sind zum Glauben (griechisch pistis) gekommen und haben erkannt:» (Joh 6,69)
«Das deutsche Wort Glaube, das in seiner Urbedeutung mit Geloben (Treue) und Lieben zusammenhängt, hat einen solchen Bedeutungswandel durchgemacht, dass es heute kaum mehr als Übersetzung des neutestamentlichen pistis gebraucht werden kann. [...] Pistis, Vertrauensgehorsam, ist die personhafte Antwort der Selbsthingabe an Gottes Wort.» [7] Bei Simon Petrus ist der Glaube ein Geschenk: «Wir sind zum Glauben gekommen.» Glauben und Erkennen gehören bei ihm unverbrüchlich zusammen. Deshalb ist sein Glaube seine persönliche Antwort, die er mit seinem ganzen Leben zu geben bereit ist.
Und bei uns? Welche Bedeutung messen wir unserem Glauben bei? Ist für uns das Glauben-Können, also die Tatsache, dass ich an Jesus Christus glaube – und sei dieser Glaube noch so klein –, ebenfalls ein Geschenk? Ein Geschenk, das ich hüten und bewahren will, weil ich um den göttlichen Geber weiss? Weil ich weiss, dass ich dies nicht selber bewerkstelligt habe. Das Glauben-Können ist einfach da in mir, will sich entfalten, wachsen und zum Baum werden, in dessen Schatten ich mein Leben lebe.
Gott
«Du bist der Heilige Gottes.» (Joh 6,69)
Petrus sieht Jesus an und begreift, ohne zu wissen wie: Du bist Gott. Der Heilige Gottes mitten unter uns. Diese Einsicht, diese Klarheit, die Simon Petrus zu eigen geworden ist, bewegt. Zu einem solchen Schluss zu kommen, war für ihn damals genauso anspruchsvoll wie für uns heute. Dennoch ist heute die Rede von Gott ganz grundsätzlich schwierig geworden. Es entsteht eine Verlegenheit, derer man sich kaum wehren kann. Im Zuge der Aufklärung – welche die Vernunft des Menschen als Mass aller Dinge in den Mittelpunkt gerückt hat und die ihren Anfang im 18. Jahrhundert genommen hat – ist es für uns abendländische Menschen fast unmöglich geworden, Gott in ungebrochener Weise zu denken und zu glauben. Wir hüten zwar das kleine Feuer unserer christlichen Religiosität. Doch erleben wir Jahr für Jahr, wie dies anstrengender, mühsamer wird. Gott ist der Welt gleichgültig geworden. Ein Objekt neben anderen Objekten im besten Fall. Ein Gedanke aus ferner Zeit, der längst ausgeklungen ist.
Und wir? Auch uns ist Gott in gewisser Weise fremd geworden; manchmal nur noch Platzhalter in einem religiösen Gedankengang. Auch bei uns hat Gott einen festen Platz zugewiesen erhalten. Und hier soll er bitte tun, was unserem Bild von ihm entspricht. «Der Kern aller Versuchung [...] ist das Beiseiteschieben Gottes, der neben allem vordringlicher Erscheinenden unseres Lebens als zweitrangig, wenn nicht überflüssig und störend empfunden wird. Die Welt aus Eigenem, ohne Gott, in Ordnung zu bringen, auf das Eigene zu bauen, nur die politischen und materiellen Realitäten als Wirklichkeit anzuerkennen und Gott als Illusion beiseitezulassen, das ist die Versuchung, die uns in vielerlei Gestalten bedroht.» [8]
In Jesus, dem Christus, erkennt Petrus Gott. Gott mit uns. Nahegekommen. Nicht nur ein Wort, ein Gedanke, eine Abstraktion, ein Platzhalter für ein höheres Wesen.
In der Frage nach Gott deuten uns die Worte von Simon Petrus einmal mehr einen Weg an. In Jesus, dem Christus, erkennt er Gott. Gott mit uns. Nahegekommen. Nicht nur ein Wort, ein Gedanke, eine Abstraktion, ein Platzhalter für ein höheres Wesen. Diese Konkretion eröffnet auch uns die wunderbare Erkenntnis, dass Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde, uns kennt und sich um seine Schöpfung kümmert. Alles gehört ihm. Die Welt ist sein. Er erhält sie tagein, tagaus. Unser ganzes natürliches, leibliches Sein ist aus IHM, dem Schöpfer, geworden und gehalten. Die Pflanzen, die Tiere und wir Menschen sind seine Geschöpfe. Alles ist sein Werk. Diese Erkenntnis wieder entschlossen ins eigene Bewusstsein zurückzuholen, führt ins Staunen und in eine grosse Dankbarkeit. «Gott ist nicht etwas in der Welt, das grösste Wesen, der grösste Bewohner der Welt. Gott ist nicht in der Welt. Sondern die Welt ist in Gott. Gott ist nicht in deinem Wissen, sondern dein Wissen ist in Gott. Wenn dir auf deine Frage‚ ‹gibt es einen Gott?›, geantwortet würde: Ja, ‹es gibt› einen Gott, so gingest du heim, um eine Täuschung reicher. Du meintest: Gott ist auch etwas unter dem, was ‹es gibt›. Und das ist er eben nicht, wenn er wirklich Gott ist. Gott ist nie neben etwas, etwas unter anderem.» [9]
Beständigkeit und Bleiben
Während ich dies schreibe, zieht der Frühling ins Land. Überall um mich herum spriesst das zarte Grün. Sträucher und Bäume kleiden sich neu ein. Auch die Blumen stehen dem nicht nach und zeigen ihre farbenfrohe Blütenpracht. Alles geschieht lautlos, wundersam und dennoch so wirkmächtig. Vor meinen Augen verwandelt sich das Land. In diesen Tagen bin ich einmal mehr ein stiller Zeuge eines unbeschreiblichen Wunders. Ein staunender Betrachter. Alles geschieht ohne mein Zutun. Da ist ein anderer zuständig: Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde.
Als gebildeter Mensch weiss ich um die fundamentale Spannung, die zwischen meinem Glauben an Jesus Christus und unserer modernen, aufgeklärten Weltanschauung besteht. Ich weiss, dass im rationalen Denken unserer Zeit Gott nicht mehr vorkommt und die Bibel nur noch für das Religiöse von Bedeutung ist. Ich bin in vielerlei Hinsicht unentrinnbar dem Takt unserer Zeit und Kultur unterworfen. Da sind die Gesellschaft, die Politik, die Wissenschaft, die Medien und manches mehr, die mich beeinflussen. Ich kann nicht anders, als ein Kind unserer Zeit zu sein.
Doch da ist auch mein Glaube an Jesus Christus. Ich bin tief bewegt über dieses unverdiente, unbezahlbare Geschenk an mich. Wie ich über das wundersame Werden im Frühling staune, so staune ich über den Glauben. Gott hat mich in und durch Jesus Christus in diesen Glauben hinein berufen. Er ist der «Rufer» (Silja Walter), der noch heute nach mir, nach uns Ausschau hält. Darum will ich dem Glauben Sorge tragen. Er soll leben. Er soll wachsen. Mein Glaube soll meinem Denken zugänglich sein und diesem vorausgehen. Denn mein Glaube drängt mich, mit innerer, ungeteilter Überzeugung zu glauben.
Und dabei erlebe ich, wie mir der Glaube einen weiten Horizont auftut. Unendlich grösser als die menschliche Vernunft und die menschlichen Errungenschaften reichen. In diesem Horizont darf ich – und will ich! – Geschöpf Gottes sein. Kind Gottes sein. Der Glaube ermöglicht mir ein Verstehen, welches weit über die rationale Logik hinausgeht. Wo die Geschichte nicht sinnlos, nicht ziellos ist, weil sie auch Heilsgeschichte ist. Wo das Leben nicht bedeutungslos bleibt, nicht nur als Nummer auftaucht. Wo Neuanfänge möglich sind, wo Versöhnung im Geist Christi geschieht, wo Vertrauen und Liebe sich im Zwischenmenschlichen einnisten können.
Ich bleibe bei Jesus, weil ER der Anfänger meines Glaubens ist und diesen zu einem Ganzen, zu etwas Ungeteiltem ausgestalten will. Ich bleibe, weil die Beständigkeit im Glauben mein Innerstes – mein Denken, Fühlen und Wollen – auf gute und hoffnungsvolle Weise prägt und dadurch mein Leben immer wieder neu ausgerichtet wird zu einem gelingenden Leben in und für diese Welt.
«Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.» (Apg 2,42) [10]
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Philipp Hendriksen ist Dozent der HF TDS Aarau und im Konvent mitverantwortlich für den Fachbereich Theologie
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Fussnoten:
1 Stabilitas (loci)(lat.) = Feststehen, Festigkeit
2 Wo nicht anders vermerkt: Einheitsübersetzung 2016.
3 Feinendegen, N. (2023). C. S. Lewis. Überrascht von Gott. Fontis, 165.
4 Walter, S. (1980). Ruf und Regel. Erfahrungen des Glaubens im Benediktinischen Kloster. Arche, 230f.
5 Bonhoeffer, D. (1998). Bonhoeffer-Brevier (8. Aufl.). Kaiser, 51.
6 Neuer, W. (2023). Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche. Calwer, 159f.
7 Brunner, E. (1938). Wahrheit als Begegnung. Sechs Vorlesungen über das christliche Wahrheitsverständnis. Furche, 51.
8 Ratzinger, J., Benedikt XVI. (2007). Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Herder, 57.
9 Brunner, E. (1992). Unser Glaube: Eine christliche Unterweisung (17. Aufl.). TVZ, 5.
10 Lutherbibel 2017