Die Säkularisierung schreitet voran, die Kirchen verlieren an Rückhalt. Der Glaube aber hat Zukunft, und damit auch neue Formen kirchlichen Lebens.
Nein, sie ist nicht tot. Der Zustand der Patientin aber ist besorgniserregend. Wir reden von der Kirche. Was für die Schweiz gilt, gilt grob gesagt für den westeuropäischen Kontext: Immer weniger Menschen halten den christlichen Glauben für eine relevante Grösse, die ihr Leben bestimmt. Und falls doch, sagen viele: «Ich kann auch ohne Kirche glauben!»
Glaube und Kirche auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit
Das ist der herrschende Grundton. In seinem Buch «Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt», hält der Theologe Prof. Jan Loffeld der westlichen Kirche die unliebsame Wahrheit schonungslos vor Augen: Das von manchen Kirchenleuten eifrig gepflegte Schönreden und Verharmlosen (1) lenkt von der Misere ab und geht an der Realität vorbei. Die Säkularisierung ist weit mehr fortgeschritten, als es den meisten bewusst ist. Nur wenige unserer Mitmenschen wissen, wen wir meinen, wenn wir von Gott sprechen. Sie verspüren auch keinen spirituellen Mangel. Gott fehlt ihnen nicht. Sie vermissen weder ihn noch die Kirche. Sie sind gleichgültig. «Apatheismus», nennt Loffeld dieses Phänomen. Dessen Markenzeichen: Ein kurzes Schulterzucken. «Gott und Kirche – so what!? Ist mir egal.»
Nun, es gibt Ausnahmen. Momente, in denen die Kirche es in die Presse und in die Tagesschau schafft. Dann nämlich, wenn es wieder einmal um Missbrauchsfälle geht. Wenn bekannt wird, wie lange auch dieser Fall vertuscht wurde. Wie mancher Kirchenleiter die Täter, statt die Opfer geschützt hat. Dann ist die Empörung zu Recht gross. Dann weist die Linie in der Austrittsstatistik erneut steil nach oben. Mit der Folge, dass sich die Gleichgültigen in ihrer Erwartungslosigkeit gegenüber der Kirche erneut bestätigt fühlen.
Eine beeindruckende Zahl junger Erwachsener besuchen die Gottesdienste etablierter Kirchen. Zehntausende lassen sich Jahr für Jahr in der Osternacht taufen.
Aufbrüche, die Hoffnung wecken
Es geht also bergab. Alles? Nein, nicht alles. Inmitten dieser düsteren Realität leuchten an unerwarteten Stellen Hoffnungslichter auf. Wir hören es aus Holland, aus Grossbritannien, aus Frankreich: eine beeindruckende Zahl junger Erwachsener, mehrheitlich Männer, besuchen die Gottesdienste etablierter Kirchen. Zehntausende lassen sich Jahr für Jahr in der Osternacht taufen. Andere machen jenseits einer Kirche Glaubenserfahrungen, die ihr Leben auf den Kopf stellen. In England spricht man von «Quiet Revival» – einer stillen Wiederbelebung des Glaubens. Mehr und mehr Zeitungen nehmen das Thema auf. Die britische Regierung lässt das Phänomen untersuchen und veröffentlicht Statistiken, die Erstaunliches zutage fördern: Junge Menschen interessieren sich für die Bibel. Viele wollen sich diakonisch engagieren. Einige von ihnen schreiben sich für ein Theologiestudium ein. Sie suchen nach Antworten auf die Frage, wie sie ihre neue Glaubenserfahrung einordnen sollen. Auch hier in der Schweiz hören wir da und dort von geistlichen Aufbrüchen unter jungen Menschen (2).
Typisch Gott
Dies alles sind keine grossflächigen Erneuerungen. Wir wissen nicht, ob dieser Trend anhält oder sich gar verstärkt. Diese Vorkommnisse machen dennoch Mut und zeigen ein geradezu anachronistisches Geschehen: Bei der Generation der sogenannten «Boomer» (Jahrgänge 1946-1964) steigt die Zahl der Kirchenaustritte unerbittlich weiter. Kirchen müssen schliessen. Gelder fehlen. Pfarrpersonen ebenso. Einer wachsenden Zahl von theologischen Fakultäten fehlen Studierende. Nun geschieht all diesen Entwicklungen zum Trotz an unerwarteten Stellen etwas, womit die wenigsten gerechnet haben: Gott ruft junge Menschen zu sich. Sie klopfen an die Kirchentüre und suchen nach Antworten auf ihre Fragen. Und dies oft gerade nicht in hippen Trendgemeinden. Es sind katholische und anglikanische Gemeinden, deren Repräsentanten sich verwundert die Augen darüber reiben, wer da auf einmal in ihren Gottesdienst kommt. Noch einmal: Wir wissen nicht, ob dies alles ein kurzes Aufglimmen bleibt, an das sich in fünf Jahren keiner mehr erinnert. Vielleicht aber ist es einfach typisch Gott: Er weckt Glauben, er erneuert die Kirche. Er tut es gerade dort, wo man es nicht erwartet hätte.
Typisch Gott: Er weckt Glauben, er erneuert die Kirche. Er tut es gerade dort, wo man es nicht erwartet hätte.
Wer Kirche «machen» will, muss scheitern
«Die Kirche ist vor all unserem Wollen da.», schreibt Dietrich Bonhoeffer in «Das Wesen der Kirche» (3). Nicht nur vor, auch nach unserem Wollen wird die Kirche da sein. Damit meint Bonhoeffer: Kirche ist menschlicher Verfügbarkeit und Machbarzeit entzogen. Sie ist da, weil Gott es will. Daraus erklärt sich manches Scheitern von kirchlichen Reformprozessen: Hier wollten Menschen der Kirche Leben einhauchen. Ihr eigenes Leben; mit ihren doch so wirksamen Ideen, Strategien und Methoden. So hilfreich diese sind: Wenn es um Gottes Kirche geht, müssen wir damit scheitern, wenn sie bloss unserem Wollen entspringen. Andererseits sehen wir (wie gerade festgestellt) Kirche an unerwarteten Orten entstehen und neu aufblühen. Kirche entsteht, weil Gott es will. Weil er wirkt, belebt, Menschen ruft und im Namen von Jesus Christus sammelt. Sie ist eine «pneumatische Wirklichkeit», um eine andere Wendung aus Bonhoeffers theologischem Vokabular zu verwenden (4). Sie erklärt sich aus dem Wirken von Gottes Geist, nicht aus menschlichem Wollen und Gestalten.
Gott braucht uns nicht und will uns doch
Das heisst nicht, dass Gott seine Kirche ohne uns baut. Dass wir nichts zu tun haben. Dass wir die Hände in den Schoss legen können. Für alle, die die Kirche lieben und sich für sie einsetzen, gilt, was Paulus den Christen in Korinth schreibt: «Wir sind Gottes Mitarbeiter; Gottes Ackerbau und Gottes Bau seid ihr» (1. Korinther 3,9). Unsere Aufgabe ist es, zu «pflanzen» und zu «bewässern»… Gott aber ist es, der es «wachsen lässt» (3,6). Als TDS sehen wir uns von Gott beauftragt, Menschen auszubilden, die sich diese Perspektive zu eigen machen. Wir sagen unseren Studierenden nicht, dass es an ihnen ist, die Kirche zu erneuern. Das kann nur Gott. Wir ermutigen sie, erwartungsvoll zu säen, zu pflanzen und zu begiessen. Wir ermutigen sie, ihren Gaben gemäss von Jesus Christus zu reden. In seinem Namen auf fachlich kompetente Weise diakonisch und gemeindeanimatorisch zu handeln. All das dürfen und sollen sie fröhlich tun. Das gilt auch uns Dozierenden. Wir wollen in unserem Alltag so kreativ wie möglich für Gott werben und unseren Glauben leben. Hier liegt unser Beitrag zur Kirche und er ist wichtig.
Wie dem Wald schadet auch der Kirche zu viel Monokultur, zu viel vom ewig Gleichen. Wie dem Wald, würde auch der Kirche mehr Vielfalt helfen. Mehr sich frei entfaltende Wildnis, in der sich neues Leben etablieren kann.
Wir brauchen mehr Wildes
Dieser Beitrag dürfte aber da und dort noch unkonventioneller und frecher aussehen, als man es sich in unseren Kirchen vorzustellen wagt. Was das heissen könnte, zeigen zwei Folgen des Podcasts Praktisch.Theologisch.Kirche. In den Folgen 6.9. und 6.10. sprechen dessen Macher mit dem Forstingenieur Prof. Dr. Hendrik Hartmann und dem Theologen Prof. Dr. Thomas Schlag über die Parallelen zwischen moderner Forstwirtschaft und Kirchenentwicklung. Dieser Vergleich drängt sich deshalb auf, weil der europäische Wald sich klimabedingt in einem ähnlich alarmierenden Zustand befindet wie die von Krisen und Mitgliederschwund betroffene Kirche in Westeuropa. Grosse Waldbestände sind gefährdet, viele Baumarten sind krank und sterben. Neue Formen der Bewirtschaftung werden gesucht, die das Überleben des Waldes sichern helfen. Ähnliches kann von der Kirche gesagt werden. Lange gepflegte Traditionen verlieren an Bedeutung. Missbrauchsfälle und blutleere Theologie führen dazu, dass sich ihre Mitgliederreihen nur noch schneller lichten, als sie es sonst schon tun. Wie dem Wald schadet auch der Kirche zu viel Monokultur, zu viel vom ewig Gleichen. Wie dem Wald, würde auch der Kirche mehr Vielfalt helfen. Mehr sich frei entfaltende Wildnis, in der sich neues Leben etablieren kann (5). Der Theologe Thomas Schlag ermutigt die Kirche, eine breitere Palette an Formen christlicher Kirche nicht nur zuzulassen, sondern aktiv zu fördern. Es geht nicht darum, traditionelle Formen, etwa des Gottesdienstes, abzuschaffen. Aber es braucht mehr als das, was wir an etablierten Formen kennen. Bewegungen wie fresh expressions of church befinden sich schon seit längerem auf diesem Weg. Doch es braucht noch viel mehr solche und andere Initiativen, die sich mutig in Neuland vorwagen und Ungewohntes ausprobieren.
Ungewohnt und schräg darf sein, aber es genügt nicht
Es ist allerdings nicht damit getan, dass eine Handvoll Christen ein paar kreative Sprünge machen und diese dann «Kirche» nennen. Eine Wanderung im Lötschental mit einer Fünfminutenandacht im kalten Bergsee ist weder ein Gottesdienst, noch bilden diese Wanderbeschuhten eine Kirche. Eine solche Initiative kann aber ein Anknüpfungspunkt für Menschen sein, die sich an Glaubensfragen herantasten. Die Lösung ist nicht: Je schräger und spektakulärer, umso besser. Nicht jeder Bikertreff mit Bibelsprüchen auf dem Bierglas ist eine neue Form der Kirche. Wir sprechen dann von Kirche, wenn deren biblischen Grundpfeiler in Erscheinung treten und ineinanderfliessen: Das Bezeugen und Verkündigen des Evangeliums (martyria), gelebte Diakonie (diakonia), authentische Gemeinschaft (koinonia) und gottesdienstliches Feiern (leiturgia) (6). Wenn die Grundvollzüge christlicher Existenz darin zum Tragen kommen: Persönlicher Glaube, Taufe und Nachfolge Christi. Gelebte Gottes- und Nächstenliebe. Die Feier des Abendmahls. Das Lesen der Bibel. Die theologische Auseinandersetzung. Alles, was dazu hinführt, sprich: ungewohnte Orte und Formen des Gottesdienstes, diakonische Projekte, Cafés, Kletterwände an Kirchtürmen und Meditation in einer Shisha-Bar können bestenfalls Weg der Annäherung an das sein, was Gott uns in der Kirche schenkt und darin wirken will.
Eine Versuchung und wie man ihr widersteht
«Lasst uns mutig experimentieren und nach neuen Wegen fragen», höre ich jene sagen, die dem bisher Gesagten im Wesentlichen zustimmen. Die sich wünschen, dass Jesus Christus in alten und neuen Formen der Kirche seine Gnade und verändernde Kraft aufleuchten lässt. Ja, es wäre ein Akt der Freisetzung, wenn es zu einer breiten Bewegung von Initiativen kommen würde, in der mutig Neues ausprobiert werden darf. Es wäre grossartig, wenn die Verantwortlichen der etablierten Volks- und Freikirchen grosszügig Raum für solche Experimente schaffen würden. Wenn nicht die Angst um alte Pfründe, um Amtswürde oder Machtverlust ihre Leitenden daran hindern würde, all jene zu ermutigen und wohlwollend zu begleiten, die den Status Quo durchbrechen möchten. Wir brauchen kirchliche Vielfalt weit über das uns bisher Bekannte hinaus!
Es wäre grossartig, wenn nicht die Angst um alte Pfründe, um Amtswürde oder Machtverlust die Leitenden in der Kirche daran hindern würde, all jene zu ermutigen und wohlwollend zu begleiten, die den Status Quo durchbrechen möchten.
Gleichzeitig ist es wichtig, dabei einer häufig auftauchenden Versuchung zu widerstehen. Gerade der für Neues Offene neigt dazu, nach dem zu fragen, was «funktioniert». Man blickt zu den «erfolgreichen» Gemeinden; zu denen, die wachsen, und bewundert werden. Man kann von ihnen manches lernen. Aber man sollte sie nicht einfach kopieren. Was woanders gelingt, lässt sich selten nachmachen. Vermutlich passt das diakonisch-missionarische Projekt in Thun nicht eins zu eins nach Frauenfeld. Das heisst: Pioniere und Pionierinnen brauchen neben dem Mut für neue Wege die Demut, ihren Kontext entscheiden zu lassen, welche Initiative hier tatsächlich Sinn macht. Es ist falsch, wenn der Ort und die dortigen Menschen einem bestimmten Projekt dienen sollen und nicht das Projekt einem bestimmten Ort und dessen Menschen. Es geht darum, einen spezifischen Kontext als das zu sehen, was er ist; was er hergibt und braucht – und was nicht. So wie ein guter Bauer versteht, dass er auf einem durchlässigen Acker nicht dasselbe kultivieren kann wie auf moorigen oder lehmigen. Das Motto muss heissen: «Lass den Ort entscheiden. Kopiere nicht kopf- und kontextlos.»
Pioniere und Pionierinnen brauchen neben dem Mut für neue Wege die Demut, ihren Kontext entscheiden zu lassen, welche Initiative hier tatsächlich Sinn macht.
Wenn Gott Gelegenheiten schenkt
Doch es braucht nicht immer die grossen Würfe, damit Neues wachsen kann. Manchmal sind es leise Regungen und Chancen, die sich nutzen lassen. Wie ungeübt manche Kirchen darin sind, sich für das zu öffnen, was sich an leisem Aufbruch ankündigt, zeigt ein aktuelles Beispiel: Im reformierten Kirchenbezirk einer Kleinstadt melden sich vier junge Männer unter 20 beim Kirchensekretariat. Sie sind jung im Glauben, aber voller Leidenschaft, Gott näher kennenzulernen. Sie fragen, ob sie sich in einem der Räume im Kirchgemeindehaus zum Bibellesen treffen dürfen. Die Kirchenbehörde stellt fest, dass diese Jugendlichen nicht Mitglied der reformierten Kirche sind. Ihr Antwort: «Nein, das geht nicht. Da müsste eine Pfarrperson dabei sein und sicherstellen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.» Die jungen Männer ziehen enttäuscht ab. Diese Kirche hat eine kleine, aber vielleicht wichtige Chance verpasst, die Gott ihr vor die Füsse legte. Ein tragischer Einzelfall? Urteilen Sie selbst …
Thomas Härry ist Dozent am TDS Aarau, Berater, Referent und Buchautor.
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(1) Dazu gehören Sätze wie: «Viele Eltern lassen ihr Kind noch immer taufen» – «Zu Weinachten sind unsere Kirchen voll» – «Die Menschen sind unheilbar spirituell»
(2) So erzählen es mir mehrere befreundete Leiterinnen und Leiter von Kirchen aus ihrem eigenen Kontext.
(3) Dietrich Bonhoeffer (1971), Das Wesen der Kirche. Chr. Kaiser, S. 53
(4) Dietrich Bonhoeffer (2025), Gemeinsames Leben. Brunnen Verlag, S. 43.
(5) Im englischen Sprachraum spricht man in diesem Zusammenhang von «Rewilding the Church» (Renaturierung der Kirche). Siehe: Steven Aisthorpe (2020), Rewilding The Church. St. Andrew Press.
(6) Die kirchliche Tradition hält diese vier Grundpfeiler kirchlichen Handelns konfessionsübergreifend für konstitutiv.