Portrait | Gesellschaft

Kriegskind und Freudenbote

Dieter Kemmlers Lebensgeschichte ist facettenreich. Hinter den Eckdaten stehen eindrückliche Erlebnisse, Begegnungen und Gotteserfahrungen. Diese machten Dieter zu dem Menschen, der er heute ist. Der folgende Artikel widmet sich drei Abschnitten aus Dieter Kemmlers Biografie.

Kindheit und Berufung

Dieter wurde 1939 als zweites Kind der Familie in Stuttgart geboren, während sein Vater im Krieg war. Im Jahr 1944 stand für die Truppen von Dieters Vater der Marsch nach Stalingrad bevor. Dieters Mutter wusste dies und ging davon aus, dass ihr Mann bei diesem Feldzug das Leben lassen würde. Sie wollte unbedingt, dass er seine beiden Söhne nochmals bzw. erstmals sehen kann. Über die Feldpost erfuhr sie, dass ihr Mann in Warschau einen sog. Fronturlaub hatte. So entschied sie sich gegen den Rat aller Nachbarn, den Weg nach Warschau mit ihren beiden Söhnen unter die Füsse zu nehmen. Zug- und Busverbindungen gab es wegen dem Krieg keine. So legten sie zu Fuss und «per Anhalter» mit Pferde- und Kuhwagen die Strecke von ungefähr 1000 km zurück. Wegen den Flugangriffen mussten sie sich ab und zu in den Strassengraben legen. Sie fanden das Lager bestehend aus Baracken östlich von Warschau. Dieters Vater freute sich unglaublich und sie verbrachten eine oder zwei für die Buben unvergessliche Wochen zusammen. Beim Abschied ging man davon aus, dass sie einander nicht wieder sehen würden – hinter vorgehaltener Hand war klar, dass der Krieg bereits verloren war. Vater Kemmler gab seiner Frau den Rat, nicht nach Stuttgart zurückzugehen, sondern zu Verwandten aufs Land zu ziehen, wo es weniger gefährlich war. Nach der wiederum langen und beschwerlichen Rückreise sahen sie Stuttgart von Weitem leuchten: Die Stadt war zerbombt. Kemmlers ehemaliges Wohnhaus war total zerstört und alle Bewohner waren umgekommen. So verbrachten die Mutter und die beiden Söhne die nächsten Jahre auf einem Bauernhof bei Verwandten. Im Jahre 1949 tauchte bei einem Rücktransport von russischen Kriegsgefangenen sehr unerwartet Dieters Vater auf: Es herrschte grosse Freude. Doch der Vater war schwer vom Krieg gezeichnet: Ein geschlagener Mann, der nun auch Mühe hatte, wieder Arbeit zu finden.

Die Mutter kämpfte dafür, dass die Buben eine gute Schulbildung haben konnten. Dieters Bruder Klaus stand bald davor, das acht Kilometer entfernte Gymnasium zu besuchen. Dazu benötigte die Familie ein Fahrrad, das die Mutter während Jahren zusammengespart hatte. Am Tag der bestandenen Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium drehte Klaus abends eine Runde mit dem neuen Velo – und verunfallte dabei tödlich. Die Familie stand unter Schock – und die Mutter erholte sich davon nicht mehr. Sie wurde krank und starb wenige Jahre später. Nun war Dieter allein mit einem angeschlagenen Vater. Dem Rat eines Freundes folgend heiratete Dieters Vater nochmals. Die neue Frau brachte Stabilität in die kleine Familie, so dass Dieter frei war, sich nach seiner Ausbildung zum Bürgermeister für den Weg in die Mission zu entscheiden.

Die Zeit nach dem Krieg war schwer. Das Böse, Tragische, Depressive, die Zerstörung waren präsent und sichtbar in den vom Krieg gezeichneten Familien. Auch Dieter wurde erfasst von dieser Schwere. Auf dem Gipfel der Trostlosigkeit – nämlich nach dem Tod seines Bruders – traf Dieter in einer «Erscheinung» ein Hoffnungsstrahl: «Ich träumte, dass ein riesiges Messer auf mich zukam. Ich schrie in Todesangst. Dann hörte ich ganz deutlich die Stimme: ‹Dieter, du wirst nicht sterben.› Diese Worte prägten sich tief in mir ein und waren für mich fortan Anker des Trostes. Rückblickend sehe ich darin Gottes Eingreifen: Er hat sich mir in der höchsten Verzweiflung angenommen.»

Von einem Arbeitskollegen wurde Dieter zu einer Freizeit der Basler Mission eingeladen. Dort erlebte er Menschen, die Hoffnung und Sinn ausstrahlten. Davon wurde Dieter angezogen und entschied sich für den gleichen Weg: Ohne viel Emotionen, wie er sagt, bekehrte er sich und erlebte sofort eine Berufung zum Missionar.

So folgte eins dem anderen: Dieter verkündete seine Zukunftspläne dem Lehrmeister. Dieser hatte sehr grosse Hoffnungen in Dieter gesteckt und war perplex. Dieter beendete zwar seine Ausbildung zum Bürgermeister noch. Gleich anschliessend ging er jedoch nach Wuppertal, um das Abitur nachzuholen. Danach konnte er unter dem Dach der Basler Mission sein Theologiestudium beginnen.

Während seinem Studium entwickelte Dieter eine Leidenschaft für das neue Testament. Eine richtige Erleuchtung hatte er durch eine Gastvorlesung von Professor C.F.D. Moule aus Cambridge. Dieser Theologe – «saint and scholar» – entsprach Dieter und löste bei ihm den Wunsch aus, ein Jahr in Cambridge zu studieren. Just in diesem Jahr hatte Prof. Moule ein Sabbatical. Dieter konnte trotzdem profitieren, nicht zuletzt auch durch das Kennenlernen seiner zukünftigen Frau Elisabeth. 1969 ging er nochmals für drei Jahre mit Familie nach Cambridge zum Weiterstudium. Zwischen ihm, seiner Familie und Prof. Moule entstand in dieser Zeit eine tiefe Freundschaft.

Lern- und Lebensgemeinschaft am TDS Aarau

Dieter wollte als Dozent nicht einfach die Studierenden mit Wissen «füttern». Er sah sich selber mit den Studierenden als Teil einer Lerngemeinschaft. Er wollte auch von ihnen lernen und achtete sie als reife Leute.

Dieter setzte sich für die Eigenverantwortung der Studierenden ein. Diese wohnten damals im «Kloster», wo heute das TDS-Gebäude steht. Dieter begleitete die Studierenden im Ausarbeiten einer Hausordnung und verzichtete darauf, selber alles zu kontrollieren. Dieter gelang es, den «Paragraphen 5», der die Beziehung zwischen Männern und Frauen regelte, zu vermenschlichen. Nach grossem internen Kampf wurde es jungen Menschen, die sich verliebten, gestattet, sich am TDS kennenzulernen, «sofern sie sich gebührlich verhielten», wie Dieter es ausdrückt.

Dieter war die Verbindung von Studium und Praxis ein Anliegen. Daher führte er verschiedene Einsätze ein, als freiwilliges Angebot. Mit Studierenden gingen Kemmlers oft sonntags in Kirchgemeinden und übernahmen einen Teil des Gottesdienstes. Die Studierenden erlebten diesen Sondereinsatz anfänglich als herausfordernd, im Nachhinein waren sie jeweils sehr dankbar um diese Chance, die sie wirklich reifen liess. Einmal zur Weihnachtszeit wurde Dieter angefragt, im Gefängnis Lenzburg eine Weihnachtsfeier zu halten. Sofort stellte er ein Team von Studierenden zusammen. Sie beschlossen, die Geschichte der Kreuzigung zu erzählen – «das Evangelium pur». Grosse Bewegung kam in den Saal, der voll von Gefangenen war. Einer unter ihnen stand auf und rief den anderen zu: «Habt ihr das gehört: Dieser Jesus wurde zwischen Verbrechern wie uns gekreuzigt!» Sie erlebten in den folgenden Jahren weitere berührende und bisweilen auch brenzlige Situationen – für die Studierenden sehr prägend.

Ein drittes Beispiel war das «Unterführungssingen»: Eine Gruppe von Studierenden sang begeistert Lieder in der Unterführung des Aarauer Bahnhofs. Sie kamen mit Leuten ins Gespräch und luden sie ein zu der am Sonntag stattfindenden «Lords Party» – einem Jugendgottesdienst in Aarau.

Dieters Blick für die Entwicklung der Ausbildung am TDS war ein weit geöffneter: Er bezog gerne Menschen unterschiedlicher Herkunft und Ansichten mit ein. So gründete er zusammen mit dem damaligen Rektor Peter Henning die Konzeptionskommission. Neben Dozierenden des TDS Aarau wollten sie ehemalige Studierende sowie einen offiziellen Vertreter der Landeskirche mit an Bord haben. Diese Leitungskultur des Lernens von anderen war neu. In der Folge gingen manche Veränderungen auf die Anregung von Teilnehmenden der «Koko» zurück.

Weltweite Dienste und Fokussierung

Dieter referierte mit Begeisterung und öffnete den Zuhörenden die Augen für die Schätze des Neuen Testaments. Er vermittelte Theologie mit Lebensbezug und verstand es, Reflexion und Austausch in seine Lehre zu integrieren.

Seine ebenso gehaltvolle wie humorvolle Art wurde weit übers TDS hinaus bekannt. Dies führte dazu, dass er von verschiedenen Organisationen und Seminaren als Referent angefragt wurde. Drei davon seien hier erwähnt: Die VBG (Vereinigte Bibelgruppen in Schule, Universität, Beruf), das Fuller Seminary in Los Angeles und das SAIACS (South Asia Institute of Advanced Christian Studies) in Indien.

Anfangs 80er-Jahre wurde Dieter angefragt, ob er in einer Woche am Wochenseminar für Theologiestudenten in Moscia lehren könne. Dieter sagte zu. Damit begann eine viele Jahre anhaltende Verbindung zu der VBG. In deren Kurszentrum Casa Moscia wurde Dieter nun Jahr für Jahr als Referent für Theologiestudierende, Lehrerinnen und Lehrer sowie bei Familienwochen engagiert. Diese Zeiten am Lago Maggiore wurden für die ganze Familie Kemmler zum Gewinn: Die Kinder wurden stark geprägt in ihrem Glauben und erlebten ihren Vater in Aktion. Dieter engagierte sich in der Folge auch im Vorstand der VBG.

Ein Dozent am Fuller Theological Seminary in Los Angeles wurde auf Dieter aufmerksam und lud ihn ein, dort zu lehren. Dieters Art – Lehren im Dialog – würde sehr gut zur Kultur ihres Seminars passen. So konnte Dieter während Jahren mit Freude unterrichten – auch im unkonventionellen Rahmen: In den Abendkurs wurde die Mahlzeit integriert, wo man sich über die Referate unterhielt. Das Seminar galt als moderne Ausbildungsstätte, und Dieter blühte regelrecht auf beim Dozieren und Disputieren mit den Studierenden. Auch auf diese Lehrreisen nahm Dieter seine Familie mit.

Im 1987 konnte Dieter während einem Sabbatical in Indien Halt machen. Er wurde in Kontakt gebracht mit einem Missionar aus Neuseeland, der ihm die Situation der höheren theologischen Ausbildung von Inderinnen und Indern schilderte. Diese würden ihr Aufbaustudium in den USA machen und blieben dort hängen – mangels einer guten theologischen Ausbildungsstätte in Indien. Er war daran, in Indien ein Seminar in der Art des Fuller Seminars aufzubauen: Das South Asia Institute of Advanced Christian Studies (SAIACS). Er sah folgende Vorteile gegenüber einer Ausbildung in den USA: Die Ausbildungskosten betrugen ein Zehntel gegenüber denjenigen in den USA; die ausgebildeten Leute blieben nach der Ausbildung in Indien; und der Stoffplan konnte auf die Situation in Indien ausgerichtet werden.

Dieter wurde gefragt, ob er bereit sei, am folgenden Nachmittag zu den Studierenden zu sprechen – was er gerne tat. Daraus wurden mehrere Referate und eine Sonntagspredigt. Dieters Art wurde dankbar angenommen: «Good stuff». Auf der Fahrt zum Flughafen wurde Dieter gefragt, ob er sich vorstellen könnte, nächstes Jahr im Sommer für ein vierwöchiges Modul wieder zu kommen. Dieter besprach sich mit dem Vorstand des TDS. Es wurde ihm zugestanden, wenn es im August während den Ferien geschah. Die Geldfrage musste auch geklärt werden und führte zu einem eindrücklichen Erlebnis bei Kemmlers.

Dieter war klar, dass seine Lehrtätigkeit in Indien unentgeltlich geschehen würde. Er ging jedoch davon aus, dass man ihm die Reise bezahlen würde. Das sei ein Missverständnis, meinten die Verantwortlichen in Indien entschuldigend. Am Familientisch wurde die Situation besprochen. Tochter Christina, bestand darauf, dass man um das Geld betete: «Du hast ja immer gesagt, dass man Gott um alles bitten kann», forderte sie Dieter heraus, dem es irgendwie komisch vorkam, so direkt um einen Geldbetrag zu beten. Aber er liess sich darauf ein. Ein paar Tage später lag ein anonymer Brief mit einer Tausendernote im Briefkasten. Dieses Erlebnis hat die Familie Kemmler tief beeindruckt.

Das grosse Engagement in und neben dem TDS Aarau wurde zu viel: An Auffahrt 1994 – Dieter war damals 55 – erlitt er einen Kreislaufkollaps. Lange Zeit war nicht klar, ob Dieter wieder würde arbeiten können. «Aus Gottes Gnade» – wie Dieter sagt – war es möglich, dass er ab 1995 wieder am TDS einsteigen konnte. Der begleitende Arzt forderte eine erhebliche Reduktion seines Arbeitspensums. Es wurden zwei Dozierende neu angestellt, um Dieter zu entlasten.

Dieter nahm auch seelsorgerliche Hilfe in Anspruch. Es war klar, dass er fokussieren musste, um sich selber und seine Familie nicht zu gefährden. «Lass sein, was andere auch können, und konzentriere dich auf das, was nur du so geben kannst» – dies der Rat von einem älteren Freund. Daraufhin beschränkte sich Dieter auf seine Kernaufgaben am TDS Aarau und behielt darüberhinaus nur noch seinen Dienst in Indien.

Ein Geschenk des Himmels – wie Dieter es ausdrückt – wurde ihm durch Heiner Studer als Präsident gemacht. Dieser besuchte selber das SAIACS auf einer Indienreise und war daraufhin überzeugt: Das SAIACS ist ein seriöses Institut und Dieter leistet jeden Sommer grosse Arbeit. Heiner sorgte dafür, dass das TDS Aarau mit dem SAIACS eine Partnerschaft einging. Dieter wurde in der Folge jeweils im September eine Auszeit vom TDS ermöglicht – er konnte dann Ferien nachholen.

Matthias Ackermann