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Heilsame Beziehungen

«Heilsame Beziehungen sind ein Schlüssel für ein gesundes und gelingendes Leben.» Luca Hersbergers Referat anlässlich der Projekttage «Gemeinschaft» der HF TDS Aarau ist ein engagiertes Plädoyer für ein ganzheitlich gesundes Leben. Die Essenz dessen? «Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst!» Matthias Ackermann gibt das Referat auszugsweise wieder und führte im Anschluss an das Referat ein Interview mit dem Referenten.

1. Lebenslügen hinterfragen

Der erste Schritt: «Wir dürfen unsere Lebenslügen liebevoll hinterfragen!» Diese entstünden meist aus einem Defizit heraus (z. B. emotionale Vernachlässigung). Die Welt werde danach oft (und meist unbewusst) durch diese Lebenslüge gedeutet (z. B.: «Ich werde von anderen nicht ernst genommen.»). Oder, wie es der Talmud sagt: «Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind.»

Dieses «Schema» gälte es zu erkennen und zu verändern, denn «daraus entwickeln sich oft beziehungsstörende Bewältigungsstrategien». Diese zeigten sich bei einer «Schemaaktivierung» so, dass wir «fliehen, zurückschlagen oder uns unterwerfen». Besser sei eine Selbstreflexion mittels dieser Fragen:

  1. Was fühle ich in dem Moment?

  2. Welchen Handlungsimpuls nehme ich wahr?

  3. Wie könnte ich (stattdessen) hilfreich kommunizieren?

«Auch biblische Wahrheiten können verhindern, dass unsere Reaktion Mauern zwischen mir und dem Gegenüber aufbaut.» Luca weist hin auf Gebetskarten (1). Dort wird einem Schema eine heilsame Wahrheit gegenübergestellt – angelehnt an biblische Aussagen.

Die Wichtigkeit von Beziehungen wird auch durch die Forschung gestützt: «Einsamkeit ist ein relevanter Risikofaktor, zu erkranken oder verfrüht zu versterben!» Z. B. hätten einsame Menschen laut WHO ein bis zu 50 % höheres Risiko, an Demenz zu erkranken.

«Wenn du positiv über andere denkst, dann werden sie sich anders verhalten – und du lebst länger.»
Luca Hersberger, Dr. med. Chefarzt der psychiatrischen Klinik SGM Langenthal

2. Gut über andere denken

Luca skizziert Antreiber für positive Beziehungen und bringt es so auf den Punkt: «Wenn du positiv über andere denkst, dann werden sie sich anders verhalten – und du lebst länger.» Die Orientierung an den Stärken meiner Mitmenschen habe viele Vorteile. Studien aus dem beruflichen Kontext belegen dies eindrücklich: Mitarbeitende, auf deren Stärken fokussiert wird, …

  • sind glücklicher und berichten weniger von Depression und häufiger von höherer Vitalität und guter mentaler Gesundheit.

  • sind leistungsstärker bei der Arbeit und bleiben länger in ihrem Unternehmen.

  • sind körperlich fitter.

  • sind selbstbewusster.

  • lernen schneller.

3. Vergebung und Dankbarkeit

Im Kontext von zwischenmenschlichen Beziehungen hebt Luca Hersberger zwei besonders stärkende Elemente hervor: Vergebung und Dankbarkeit. Er begründet sie einerseits biblisch: «Seid aber gegeneinander freundlich und barmherzig und vergebt einander, gleichwie auch Gott euch vergeben hat in Christus.» (Eph 4,32)

Auch die Gesundheitsforschung spricht eine deutliche Sprache: Vergebung wirkt sich demnach positiv auf die mentale Gesundheit, den Blutdruck, das Immunsystem und das Herz aus. Dankbarkeit reduziert Stress, Schlafstörungen sowie Depressionen und stärkt gesundheitsförderndes Verhalten.

4. Bedürfnisorientierte Beziehungsgestaltung

Luca Hersberger schliesst den Kreis mit Bezug zu unseren emotionalen Grundbedürfnissen. Er ermutigt zu einer «bedürfnisorientierten Beziehungsgestaltung»:

  • Bindung: Sich echt interessieren, einander echt annehmen, in echten Beziehungen leben

  • Autonomie: Einander viel zutrauen (auch Wachstum!), Stärken identifizieren und fördern, aneinander glauben, Menschen beteiligen, aktiv einbeziehen

  • Grenzen: Auf Grenzen achten (eigene und fremde!), mutig Klarheit schaffen (auch Unangenehmes verständnisvoll, aber klar ansprechen)

Und rät …

  • auf nicht hilfreiche Bewältigung zu verzichten. Alternativen: Gewaltfreie Kommunikation, empathische Konfrontation

  • die Rolle bewusst einzunehmen, die für die Beziehung und Situation jetzt hilfreich ist: Annehmen, Wertschätzen, Coachen, Ermutigen, Befähigen, Begrenzen …

  • liebevoll Beziehungen zu leben in allen Dimensionen (zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Schöpfung)

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(1) Heilsame Gebete. Luca Hersberger, Andreas M. Walker. Verlag Mosaicstones. (Derzeit vergriffen, Nachdruck erscheint in Kürze.)

Das Buch:
Heilsame Beziehungen – wenn christlicher Glaube und Schema­therapie sich ergänzen

Das erste deutschsprachige Buch über Schematherapie und den christlichen Glauben
Dr. Luca Hersberger, Verlag Mosaicstones, 2022 (überarbeitete Auflage)

www.heilsamebeziehungen.com

«Gemeinschaft ist ein Katalysator.»

Dr. Luca Hersberger im Interview

Was macht eine heilsame Gemeinschaft aus?

Eine Atmosphäre der Annahme, des Dazugehörens. In einer heilsamen Gemeinschaft kennen wir die Bedürfnisse voneinander und ergänzen einander. Alle können die Gemeinschaft mitgestalten. Gleichzeitig müssen persönliche Grenzen beachtet werden.

Eine gesunde Gemeinschaft pflegt eine Kultur der Transparenz und der Befähigung. Schwierigkeiten werden angesprochen. Wenn eine Gemeinschaft zu perfekt daherkommt, bin ich skeptisch – das fühlt sich nicht ehrlich an, da wird Konfrontation vermieden.

Meine Erfahrung ist: Gemeinschaft ist ein Katalysator des persönlichen Reifens. Unsere Muster kommen darin zum Vorschein. Wir lernen voneinander, wir wachsen aneinander.

Du leitest als Chefarzt eine psychiatrische Klinik. Wie zeigt sich dein Anliegen für heilsame Beziehungen im psychiatrischen Kontext?

In der Sensibilisierung und Prävention: Ich darf oft zu Gemeinden sprechen, mein Buch wird gelesen (1). Ich ermutige zu einer Offenheit für Menschen in psychischer Not. Es ist unser Grundauftrag als christliche Gemeinde, ein Ort der Annahme zu sein.

Ich ermutige zu einer Offenheit für Menschen in psychischer Not. Es ist unser Grundauftrag als christliche Gemeinde, ein Ort der Annahme zu sein.
Luca Hersberger, Dr. med. Chefarzt der psychiatrischen Klinik SGM Langenthal

Im therapeutischen Kontext sind Beziehungen ein aufschlussreiches Übungsfeld. Letztlich ist es ja eine Hauptaufgabe der Psychotherapie, wieder mehr in Beziehung zu kommen – sowohl zu sich selbst als auch zu anderen sowie auch zum Leben als Ganzes und vielleicht auch zu Gott. Sich nur um sich selbst zu drehen ist nicht hilfreich. Gesund werden heisst oft auch, in diesen vier Dimensionen wieder mehr beziehungsfähig zu werden.

Natürlich braucht es Mut, sich gegenüber anderen Menschen zu öffnen, vor allem wenn man verletzt ist. Und wir Menschen vermeiden Unangenehmes gern mal. Umso mehr ermutige ich dazu, sich in vertrauensvollen Beziehungen echt füreinander zu interessieren und sich auch echt zu zeigen.

Welche Vision hast du für die Psychiatrie? Was gibt dir Hoffnung? Was findest du spannend?

Ich lerne gerne. Und gerade die neueren Erkenntnisse aus der Forschung finde ich spannend und hoffnungsstiftend: Z. B. …

Metabolismus: Es gibt einen starken Zusammenhang zwischen Stoffwechsel und psychischer Gesundheit. So kann etwa eine Umstellung auf mediterrane Kost schon eine positive Auswirkung haben auf depressive Symptome. Aktuell laufen einige Studien zum Einsatz von ketogener (2) Ernährung bei verschiedenen – auch schwergradigen – psychischen Erkrankungen – mit bisher sehr verheissungsvollen Resulaten (3)!

Umgang mit Smartphones und negativen Nachrichten: Wie unsere Dopaminausschüttung gezielt genutzt wird, damit wir mehr Zeit auf Social Media und anderen Plattformen verbringen, hilft weniger unserer (psychischen) Gesundheit als vielmehr den Herstellern der Produkte. Zudem erreichen uns täglich viele erschütternde Nachrichten. Unser Hirn nimmt negative Botschaften schneller auf, ist aber nicht unbedingt dafür eingerichtet, sie in dieser Menge und Dichte zu verarbeiten. Wir sollten mehr positive Nachrichten hören und reale Beziehungen den (Handy-)Bildschirmen vorziehen.

Wir sollten mehr positive Nachrichten hören und reale Beziehungen den (Handy-)Bildschirmen vorziehen.

Stress: Auch wir Psychiater und Psychotherapeutinnen haben immer gesagt: Stress ist schädlich und zu vermeiden. Neu wissen wir: Stress ist komplexer – es kommt sehr darauf an, wie ich Stress verstehe. Stress kann die Leistungsfähigkeit steigern, Sinn stiften und Wachstum fördern. Und wenn ich meine Sicht, mein Mindset über Stress verändere, kann dies positive Auswirkungen auf meine Gesundheit, meine Befindlichkeit und sogar meine Lebensdauer haben (4).

Wenn ich mein Mindset über Stress verändere, kann dies positive Auswirkungen auf meine Gesundheit, meine Befindlichkeit und meine Lebensdauer haben.

Generell ist meine Sicht auf etwas entscheidend: Mein Selbst- mein Menschen- und mein Gottesbild, meine Sicht auf Stress. Die Forschung über Mindsets finde ich besonders spannend, denn sie zeigt, dass ich mit wenig Aufwand viel erreichen kann.

Ein weiteres Beispiel ist das sogenannte Growth-Mindset. Stellen wir beispielsweise diese zwei Einstellungen einander gegenüber:

  • Einstellung A: Ich kann meine Fähigkeiten steigern und Eigenschaften entwickeln.

  • Einstellung B: Ich habe eine bestimmte Menge an Fähigkeiten oder Eigenschaften und ich kann wenig tun, um dies zu ändern.

Die Auswirkungen dieser beiden Mindsets sind weitreichend. Und es liegt auf der Hand, dass die lernende Haltung des Growth Mindsets viele positive Folgen mit sich bringt: Mehr Resilienz, mehr Bereitschaft, aus Fehlern zu lernen und Unterstützung anzunehmen, und auch verbesserte psychische Gesundheit. Das Schöne ist, dass ein Growth Mindset erlernt werden kann (5).

Wie bist du auf deinen Beruf gekommen?

Ich wollte Arzt werden: Kinder- oder Hausarzt, um Menschen zu helfen. Ich habe als junger Assistenzarzt aber schnell realisiert, dass dies sehr zeitintensiv ist – und dass der Glaube nur sehr beschränkt Teil des Berufs sein kann oder darf. Ich suchte daher einen Weg, Glaube und Beruf zu verbinden. Am Ort, wo ich aufgewachsen bin, gibt es eine christliche psychiatrische Klinik – die Sonnenhalde. Dort einzusteigen war daher für mich naheliegend. Ich erhielt eine Assistenzarztstelle und lernte den damaligen Chefarzt Dr. Samuel Pfeifer kennen, der mir bis heute ein wichtiger Mentor ist. Ich habe damals sein Buch «Die Schwachen tragen» gelesen und das hat mich gepackt. Ich spürte: Als Psychiater tut sich mir ein Weg auf, wie ich als Arzt der Gemeinde und den Menschen dienen kann.

Der Gemeinde dienen?

Heute kann ich das durch persönliche, manchmal auch beratende Beziehungen zu christlichen Gemeinden, durch Vorträge – oder Menschen, die bei uns in der Klinik SGM in Behandlung sind. Zudem ist es besonders erfüllend für mich, wenn ich hilfreiches Wissen an andere weitergeben kann: Wie am Praisecamp oder beim EGW an junge Leute oder hier am TDS. 

Die Fragen stellte Matthias Ackermann

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(1) Siehe Kasten auf S. 9

(2) Die ketogene Ernährung setzt auf Fett statt Kohlenhydrate zur Energiegewinnung. Dadurch imitiert sie den Stoffwechselzustand des Fastens im Körper, die sogenannte Ketose.

(3) Siehe Podcast «Metabolic Mind» und www.metabolicpsychiatry.com

(4) Siehe TED-Talk von Kelly McGonigal «How to make stress your friend» und ihr Buch «Glücksfaktor Stress»

(5) Siehe TED-Talk von Carol Dweck und ihr Buch «Selbstbild»