Bericht | Gesellschaft

Gemeinschaft feiern: Einsamkeit bekämpfen, Depression vorbeugen

Mitte März fanden an der HF TDS Aarau die Projekttage zum Thema Gemeinschaft statt. Impulse aus Theologie, Psychologie und Sozialdiakonie ermutigten zu heilsamen Beziehungen und echter Gemeinschaft. Referate und Workshops zeigten, was das heissen könnte: Aufmerksamkeit schenken, Leben teilen, neue Formen für Kirchliche Angebote finden.

Mit einer Bildbetrachtung der Göttlichen Dreieinigkeit beginnt Astrid Schatzmann die Projekttage. Die Szene zeigt Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist. Ihre Blicke sind liebevoll und aufmerksam zueinander gerichtet. Sie sitzen an einem Tisch – aber so, dass es noch Platz hat und einladend wirkt. «Diese Szene lädt uns ein, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Es ist zutiefst heilsam, im Hause Gottes zu sein. Dort finden wir Widerstandskraft gegen innere und äussere Stürme.»

Andrei Rubljow: Heilige Dreifaltigkeit. Quelle: Wikipedia

Kontaktreiche Beziehungsarmut

Sein Referat übertitelt Dominik Klenk mit dem Paradox «Kontaktreiche Beziehungsarmut». Der Philosoph und Journalist stellt das Wort von Jesus als Ausgangspunkt seiner Überlegungen: «Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz fade wird, womit soll man dann salzen?» Dominik fragt: Was macht uns fade – in unserem kulturellen Kontext?

Der Referent nennt die heute wertvollste Ressource: Aufmerksamkeit. Die grössten Unternehmen (Google, Meta, usw.) würden darauf abzielen, möglichst viel Aufmerksamkeit von uns Menschen zu erhalten. «Das Smartphone ermöglicht uns viel Nützliches. Aber vieles bezahlen wir mit unserer seelischen Lebenskraft», – weil unsere Aufmerksamkeit begrenzt ist.

«Was macht uns fade – in unserem kulturellen Kontext?» Domink Klenk bei seinem Referat an den Projekttagen Gemeinschaft der HF TDS Aarau

Dominik Klenk blickt zurück: «Aus der Forschung wissen wir: In den letzten 60 Jahren hat sich Geschwindigkeit in unserem Leben alle 20 Jahre verdoppelt.» Er nennt Beispiele: Wie oft eine Person ihr Dorf verlässt, wieviele Informationen uns erreichen oder die Schnittfrequenz bei Filmen … Das Problem sei, dass unsere Seele ab einem gewissen Level nicht mithalten kann. Das führe zu Burnout oder eben: Zu der «kontaktreichen Beziehungsarmut» Will heissen: Wir haben viele Kontakte, aber wenig echte Verbindungen zu Menschen. «Es ist wie beim Karussel: Je mehr Speed wir haben, desto mehr werden wir aus der Mitte getrieben.»

Als Lösungsansatz skizziert Dominik das Bild von den drei Bereichen, die in die richtige Reihenfolge gerückt werden müssen:

Die richtigen Prioritäten setzen: Spiritualität, Begegnungen, Aufgaben

Links: Die ganze Lebensenergie fliesst in unsere Aufgaben – die Bereiche Beziehungen und Spiritualität gehen leer aus.

Rechts: Das Sein vor Gott, das Zur-Ruhe-Kommen der Seele, das Pflegen der Spiritualität hat die erste Priorität. Die Zeit und Energie, die in die S-Schale fliesst, kann überfliessen in Beziehungen und in Aufgaben. «So werden Beziehungen reich, und unsere Aufgaben wirken in die Welt hinein und erreichen sie. Ich glaube, dies ist der Schlüssel, die Grundlage, um aus der kontaktreichen Beziehungsarmut in die innere Fülle zu gelangen.»

Wie Gemeinschaft ganz konkret wird, wird in drei Keynotes aufgezeigt.

Gemeinschaft konkret (1): Christliches Mehrgenerationenwohnen erfahrbar

Julia Neuenschwander ist Hautpinitiantin eines Gemeinschaftsprojekts: Ein christliches Mehrgenerationenwohnen in den umgenutzten Gebäuden der ehemaligen Bäuerinnenschule des Klosters Fahr. Sie lassen sich inspirieren von diesem Ort, «an dem seit 900 Jahren gebetet wird», wie Julia begeistert erzählt. Die Gemeinschaft «erfahrbar» lebt seit Sommer 2023 partnerschaftlich neben den 16 Benediktinerinnen, die das Kloster bewohnen. Das Miteinander ist für beide Seiten ein Gewinn: Hier die benediktinische Spiritualität in Verpflichtung zu lebenslanger Klostergemeinschaft; dort die ökumenische Vielfalt mit Menschen, die im gesellschaftlichen Leben stehen und in Kirchen mitwirken. Sie seien selber keine Kirche, aber «der Schatz der benediktinischen Spiritualität vom Kloster und den Kirchen, in denen wir uns engagieren, fliesst in unsere Gemeinschaft – und dann wieder hinaus in die Gesellschaft».

«Das Miteinander ist für beide Seiten ein Gewinn.» Julia Neuenschwander stellt das Mehrgenerationenprojekt erfahrbar vor.

Die Gemeinschaft wird bewusst gemischt gestaltet: Lebensphasen und -formen, Berufe, Alter, Familien, Paare, Einzelpersonen … Alle teilen sie Alltag, Gebet und Verantwortung – und gehen auch ihre eigenen Wege.

«Die Klöster studierten die Zeichen der Zeit – mit dem Ziel, Menschen in Kontakt mit Gott zu bringen.» Auch erfahrbar möchte dafür Raum schaffen. Und: «Auch die Sozialdiakonie möchte ja dazu beitragen», wandte sich Julia Neuenschwander an die TDS-Studierenden.

Gruppenbild mit Schwestern: Im September 2023 ist «erfahrbar» zum ersten Mal voll belegt. Quelle: erfahrbar.ch

Gemeinschaft konkret (2): Miteinander verschiedener Kulturen

Egzon Shala kennt die Gemeinschaft zweier Kulturen. Aufgewachsen ist er in einer sehr grossen muslimischen Familie im Balkan. Eine Flucht führte ihn als 9-Jährigen in die Schweiz und als jungen Erwachsenen zu Jesus.

Ekzhon lebt also Gemeinschaft in und mit zwei ganz unterschiedlichen Kulturen. Und dazu ermutigt er auch die Zuhörenden, denn «mein Haus soll Bethaus genannt werden - für alle Völker» (Jesaja 56,7). Das bringe Herausforderungen mit sich: «Die Schweizer haben Uhren, aber keine Zeit – Flüchtlinge haben jedoch keine Agenda.»

Ekzhon Shala ermutigt zum Leben und Beten mit verschiedenen Kulturen.

Wie könnte unser Beitrag aussehen? Ekzhon knüpft an seine Erfahrungen an:

  • Praktische Nächstenliebe. «Christen waren sehr engagiert, uns zu besuchen.»

  • Beziehungsaufbau durch Dienst gemeinsam mit Migrantinnen: «Zusammen der Not begegnen – nicht einfach: ihr macht etwas für uns …»

Das können wir von Migrationskulturen lernen: Gastfreundschaft, Ehrung der älteren Generation, kollektives Denken, Mission.
Ekzhon Shala Interkultureller Beauftragter der SEA

«… denn auch ihr könnt von uns lernen!» Ekzohn nennt Beispiele:

  • Kultur der Gastfreundschaft, Grosszügigkeit

  • Ehrung der älteren Generation

  • Das kollektiven Denken – «viele Bibelstellen ermuntern uns dazu: Wir loben Gott, dient  einander, unser Vater, …»

  • Mission: «In den letzten Jahrhunderten habt ihr uns das Evangelium geschenkt. Aktuell ist eine Wandlung im Gange: Menschen aus Afrika, Südamerika und Asien predigen das Evangelium in der westlichen Welt.»

Gemeinschaft konkret (3): Alles auf den Freitagabend setzen

Lokal, sozialdiakonisch und praktisch: Die Sozialdiakonin Pia König schildert einen Entwicklungsprozess in der Kirche Illnau-Effretikon. Am Anfang stand ein Visionsprozess. «All unsere Projekte waren auf Zetteln am Boden verteilt - ja, wir sind verzettelt …»

So entstand Fridays – der Feierabend, der (fast) alle bisherigen Gefässe zusammenfasst. Er findet alle zwei Wochen statt und wird auf der Website wie folgt beschrieben: «Ab 18:00 Uhr gibt es feines Essen. Danach verwöhnen wir dich mit schöner Musik und inspirierenden Geschichten. Ab 19:30 Uhr kannst du spontan zwischen verschiedenen Programmen auswählen.» Geboten werden etwa Film, Worshipnight, Lounge, Prayer Room, Alphalive, Konzert, Workshop, Referat … Eigene Programme gibt es für Kinder ab dem Kindergarten und Jugendliche.

«Wir erleben Gemeinschaft über verschiedene Generationen und unterschiedliche Nähe bzw. Distanz zur Kirche.» Keynote mit Pia König, Sozialdiakonin der Kirche Illnau-Effretikon

«Wir mussten Dinge sterben lassen – und das kostet etwas.» Wichtig sei dabei, dass man sich Partner suche für seine Ideen. «In meinem Fall hiess das: Mit dem Pfarrer zusammenarbeiten …»

Pia ermutigt die Zuhörenden, ihre Vision zu verfolgen, denn «Gott hat sie euch ins Herz gelegt»! Pia ist begeistert von den Früchten, die aus dem Prozess entstehen: «Wir erleben Gemeinschaft über verschiedene Generationen und unterschiedliche Nähe bzw. Distanz zur Kirche. Die Teenies kommen zahlreicher, als wir das gedacht hätten. Einer kam und bot an, zu grillieren – er fand seinen Platz.»

Fridays – der Wochenausklang für alle. (Quelle: FRIDAYS)

Kirche für Einsame, Autisten, Sünderinnen …

In Workshops werden unterschiedlichste Aspekte von Gemeinschaft beleuchtet:, Rezepte gegen Einsamkeit, Bonhoeffers Standardwerk «Gemeinsames Leben», Anderssein (Mobbing, Depression, Essstörung), Grosszügikeit, toxische Gemeinschaften … Zwei kirchliche Café-Projekte aus Muri BE (Altes Pfarrhaus – Kaffeebar, Coworking & Community) und Zürich Witikon (Hoch3) wurden vorgestellt. Spielerisch-kreative Herangehensweise gaben Ideen für die Berufspraxis: Gemeinschaftsfördernde Spielformen, Bibliolog, Gelliprint. Andere Workshops stellen eine Frage an den Anfang: Wie offen sind wir als Kirche wirklich für die Gemeinschaft der Sünder:innen? Wie könnte Kirche heilsam sein – auch für Autist:innen?

Tanzen gegen Einsamkeit im Workshop «Rezepte gegen Einsamkeit» mit Kathrin Hunn

Zum Workshop «Autistische Kirche» gibt uns eine Studentin einen Einblick: «Wir starten mit einem motivierenden Einstieg, der klarstellt: Hier dürfen alle sein, wie sie sind! Es ist ausdrücklich erlaubt, Dinge zu tun, die dabei helfen, sich auf den Workshop zu konzentrieren – herumlaufen, aufstehen, Fidget Toys benutzen etc. Die Vorstellungsrunde ist klar strukturiert, inklusive der Information, dass wir auch einfach nur „weiter“ sagen dürfen.»

Der Workshop vermittelt auch Ideen für Kirchen: «Was hilft autistischen Menschen, sich in einer Gemeinschaft wohler zu fühlen? Reize reduzieren: Keine Hintergrundmusik, keine ungefragten Berührungen, Gehörschutz ist okay; verschiedene Räume für Gespräche, Essen und Stille/Rückzug anbieten; Abläufe immer gleich gestalten – diese z. B. auch durch Bilder anzeigen, keinen Augenkontakt erwarten; selbststimulierendes Verhalten als völlig okay definieren; digitale Räume anbieten.»

Heilsame Beziehungen für mentale Gesundheit

«Heilsame Beziehungen sind ein Schlüssel für ein gesundes und gelingendes Leben.» Dr. Luca Hersberger ist Chefarzt an der psychiatrischen Klinik SGM Langenthal. Als Essenz für ein erfülltes Leben stellt er den Schlüsselvers aus der Bibel an den Anfang: «Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst!»

Der erste Schritt: «Wir dürfen unsere Lebenslügen liebevoll hinterfragen!» Diese entstünden aus einem Defizit heraus (z. B. emotionale Vernachlässigung). Die Welt werde danach hartnäckig in diesem Schema (1) gedeutet (z. B.: «Ich werde von anderen nicht ernst genommen.»). «Das kann Mauern aufbauen und Gemeinschaft erschweren.» Gemeinschaft lohne sich aber – schon um der Gesundheit willen. Z. B. hätten einsame Menschen laut einer Studie der WHO ein bis zu 50% höheres Risiko, an Demenz zu erkranken. Doch was verhilft uns zu gesunden Beziehungen?

«Wenn du gut über andere denkst, dann wirst du besser handeln und lebst länger.» Dr. Luca Hersberger

1. Gut über andere denken

«Wenn du gut über andere denkst, dann wirst du besser handeln und lebst länger.» Luca ermutigt dazu, sich an den Stärken der Mitmenschen zu orientieren. Das zahle sich aus, auch im Arbeitsumfeld, wie Studien eindrücklich belegen: (Glücklichere, leistungsstärkere, fittere und selbstbewusstere Mitarbeitende; bessere mentale Gesundheit, …)

2. Vergebung und Dankbarkeit

Zu Vergebung und Dankbarkeit ruft uns die Bibel auf: «Seid aber gegeneinander freundlich und barmherzig und vergebt einander, gleichwie auch Gott euch vergeben hat in Christus.» (Eph 4,32) Auch die Forschung zeigt eine positive Auswirkung von Vergebung auf die mentale Gesundheit oder den Blutdruck; Dankbarkeit reduziere Stress, den Fettkonsum oder Depressionen.

3. Bedürfnisorientierte Beziehungsgestaltung

Luca Hersberger ermutigt zu einer «bedürfnisorientierten Beziehungsgestaltung»:

  • Bindung: Sich echt interessieren, einander echt annehmen, in echten Beziehungen leben

  • Autonomie: Einander viel zutrauen (auch Wachstum!), Stärken identifizieren und fördern, aneinander glauben, Menschen beteiligen (aktiv einbeziehen)

  • Grenzen: Auf Grenzen achten (eigene und fremde!), mutig Klarheit schaffen (auch Unangenehmes verständnisvoll, aber klar ansprechen)

Und rät …

  • Konflikte hilfreich anzugehen (Gewaltfreie Kommunikation, empathische Konfrontation)

  • Die für die Beziehung und Situation hilfreiche Rolle einnehmen (Annehmen, Wertschätzen, Coachen, Ermutigen, Befähigen, Begrenzen …)

  • liebevoll Beziehungen zu leben in allen Dimensionen (Menschen, Schöpfung, Umstände)

Matthias Ackermann

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(1) Dr. Luca Hersberger praktiziert die Schematherapie und ergänzt sie mit dem christlichen Glauben.

Es folgen

  • ein Bericht über gemeinsames Wohnen mit erfahrbar und Stadtkloster Frieden

  • ein ausführlicher Artikel von Luca Hersberger: Heilsame Gemeinschaft. Siehe auch die Website von Dr. Luca Hersberger mit Buchtipp