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Erwachsen glauben

Thomas Härry

Was zeichnet reife christliche Spiritualität aus? Thomas Härry stellt fest, dass die Bibel diese komplexe Frage erstaunlich knapp behandelt. In jedem Fall drückt sich der erwachsene Glaube in Beziehungen aus. Der vorliegende Artikel erschien in P&S, dem Magazin für Psychotherapie & Seelsorge.

Kürzlich sollte ich in einer Gruppe meine Frau Karin vorstellen und ihre vier wichtigsten Eigenschaften nennen. Es fiel mir schwer. Je länger ich sie kenne, umso weniger gelingt es mir, sie kurz und bündig zu beschreiben. Bei allem, was mir zu ihr einfällt, denke ich sofort: Diese Stichworte werden ihr nur bedingt gerecht! Karin ist viel mehr als das! Gerade deshalb liebe ich sie doch. Sie ist so viel mehr als spontan, verzeihend, resilient und unverstellt. Das Wesen meiner Frau ist unbeschreiblich vielfältig. Auch nach über 30 Jahren Partnerschaft zeigen sich mir im Alltag immer wieder neue, bisher verborgene Facetten ihres Wesens. 

Ähnlich ergeht es mir, wenn ich mich jemand fragt: „Wie ist Gott? Erklären Sie es mir in zwei Sätzen!“ Da kann ich nur scheitern. Gott ist kein Statement und er lässt sich in keines fassen. In seiner Unendlichkeit übersteigt er alles, was ich mir vorstellen oder beschreiben kann.

Gerade eben beschleicht mich dieselbe Verlegenheit: Ich soll den erwachsenen Glauben beschreiben. Wie lässt sich ein solch komplexes Geschehen auf den Punkt bringen? Es geht zwar nicht um eine bestimmte Person, aber doch um ein personales Geschehen – um den Menschen in seiner gereiften Beziehung zu Gott. Der damit verbundene Weg ist immer individuellen Voraussetzungen unterworfen. Wie sich erwachsener Glaube im Leben von Frau Müller ausformt, kann nicht einfach auf Herrn Maier gemünzt werden. Nachfolge kann in kein starres System gezwängt werden. Sie ist ein dynamischer Prozess. 

Unter dieser Voraussetzung kann man es dennoch wagen, ein paar Grundmuster zu skizzieren. Fragen wir also: Was ist erwachsener Glaube? Wie äußert sich die Bibel dazu? Was formt und fördert einen solchen Glauben?

Kein zentrales biblisches Thema

Die Bibel äußert sich zu diesem Thema nur am Rand. Erwachsener Glaube ist kein explizites Thema des Alten Testaments. Auch Jesus äußert sich dazu nicht in der Weise, dass sich ein klares Bild ergibt. Das mag daran liegen, dass das Individuum in den antiken Kulturen des Nahen Ostens eine andere Rolle spielte als in westlichen Gesellschaften der Neuzeit. Dort entfaltete sich persönlicher Glaube in der Einordnung in Gottes Volk. Nur selten werden Einzelne auf ihren persönlichen Glauben angesprochen, geschweige denn auf dessen Wachstum. Dennoch haben wir viele Beschreibungen persönlichen Glaubens, besonders in den Psalmen. 

Paulus spricht Gemeinden an, nicht Einzelne. Mündiger Glaube ist für ihn niemals Sache Einzelner, sondern ein gemeinsam angestrebtes Ziel.
Thomas Härry Theologe, Dozent

Die klarsten Aussagen finden wir in den Briefen des Neuen Testaments. Doch auch diese dürfen wir nicht individualistisch verengen. Paulus spricht Gemeinden an, nicht Einzelne. Mündiger Glaube ist für ihn niemals Sache Einzelner, sondern ein gemeinsam angestrebtes Ziel. Mündige Gemeinde und mündiges Christsein bilden ein untrennbares Geschehen. In diesem Kontext rügt der Apostel Paulus die Unreife, die im Verhalten der Christen von Korinth zum Ausdruck kommt: 

„Ich konnte zu euch nicht sprechen wie zu Menschen, die aus dem Geist leben, sondern musste zu euch sprechen wie zu solchen, die auf das Irdische beschränkt sind, mit in Christus noch unmündigen Menschen.“ 1. Korinther 3,1 (Zürcher)

Hier begegnen wir einer hilfreichen Klärung: Unmündiger Glaube äußert sich hier in einem lieblosen Umgang mit anderen Menschen. Reifer, erwachsener Glaube strebt nach einem friedvollen, wertschätzenden Miteinander. Wie sehr Paulus bei den ihm anvertrauten Menschen auf Mündigkeit hinarbeitet, sehen wir im Brief an die Kolosser. „Ihn (Christus) verkündigen wir, indem wir jeden Menschen auf den rechten Weg weisen und jeden unterrichten in aller Weisheit, um jeden Menschen als in Christus vollkommen hinzustellen.“ Kolosser 1,28-29a

Erwachsen glaubt, wer liebt

Erwachsener Glaube wird hier anhand des bibelgriechischen Begriffs „teleios“ charakterisiert. Man kann den Begriff mit „vollendet“ übersetzen, was an dieser Stelle allerdings irreführend ist. Im vorliegenden Kontext ist „teleios“ das Gegenstück zum unmündigen Menschen, zum Kind. Es geht nicht um Fehlerlosigkeit oder gar Perfektion. Es geht um Reife. Um eine Haltung und ein Verhalten, das Menschen entspricht, die im Glauben erwachsen geworden sind. Wie sehr sich dies im Beziehungsverhalten ausdrückt, zeigt auch 1. Korinther 13,11 (Zürcher): „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, überlegte wie ein Kind, Als ich aber erwachsen war, hatte ich das Wesen des Kindes abgelegt.“

Liest man diesen Satz in seiner Einbettung, wird deutlich: Im Glauben erwachsen werden wird als Durchbruch zu Glaube, Liebe und Hoffnung verstanden. Besonders aber zur Liebe.[1] Da haben wir es wieder: Es schlägt sich im Beziehungsverhalten nieder. Erwachsen glaubt, wer sich löst von der Fixierung auf sich selbst, die eigenen Gaben, den eigenen Erfolg, usw. Hier lag das Missverständnis mancher Korinther: Wer mehr konnte, wusste und verstand als andere, der hielt sich für besonders reif im Glauben. Paulus korrigiert sie und sagt: „Nicht was du vorzuweisen hast, ist Zeichen deiner Reife, sondern wer du bist: In deinem Gottvertrauen und in deiner auf ihn gerichteten Hoffnung. Am meisten aber in der Art und Weise, wie du Gott und deinen Mitmenschen liebst!“ In Kolosser 3,14 nennt Paulus solche Liebe „das Band der Vollkommenheit“. „Vollkommenheit“ meint auch hier keinen moralisch perfekten Status. Im biblischen Sinn ist eine Sache (oder eine Person) dann vollkommen, wenn sie sich ihrem Wesen und der ihr zugedachten Absicht gemäß entwickelt hat. Auf den Glauben angewendet: Wir entsprechen der Absicht Gottes für unsere Leben dann am deutlichsten, wenn wir lieben. Das muss keine perfekte Liebe sein, aber eine, die von unserem Mitmenschen als solche erkannt und erfahren wird.

Wir entsprechen der Absicht Gottes für unsere Leben dann am deutlichsten, wenn wir lieben.
Thomas Härry

Soweit einige biblische Wegmarken. Davon ausgehend lässt sich das Bild eines erwachsenen Glaubens um einige Aspekte erweitern. Einige davon haben auch damit zu tun, dass im Idealfall unsere biologische Reife, unsere emotionale Persönlichkeitsreife und unser Wachstum im Glauben ineinandergreifen. Das ist nicht selbstverständlich, wie wir bei Paulus gesehen haben: Wer im biologischen Sinn erwachsen ist, ist auch als Christin oder als Christ nicht automatisch auch mündig im Glauben. Auch intellektuelle Reife lässt keinen automatischen Rückschluss auf einen erwachsenen Glauben zu. Wo wir es aber mit jemandem zu tun haben, bei dem diese Dinge ineinandergreifen und sich stimmig ergänzen, dort begegnen wir einem echten Vorbild und einem erwachsen gewordenen Glauben. Was zeichnet ihn im Weiteren aus?

Erwachsener Glaube ist ein differenzierender Glaube

Die Fähigkeit zu differenziertem Denken hat unter anderem mit neurologischen Voraussetzungen zu tun. Aufgrund der Gehirnentwicklung sind sie bei erwachsenen Menschen eher gegeben als bei Kindern und Jugendlichen. Wenn ein im biologischen Sinn erwachsen gewordener Mensch offen und willig ist, seine Sicht der Dinge durch erworbenes Wissen, durch Erfahrungen und soziale Interaktion zu erweitern, dann ermöglicht ihm dies, einspurige Denkmuster zu verlassen. Dann versteht er immer besser, dass es in vielen Lebens- und Glaubensfragen nicht bloß schwarz oder weiß, richtig oder falsch gibt. Er verneint nicht, dass es manchmal auch um Wahrheit oder Lüge, um Gut oder Böse geht. Erwachsener Glaube aber lernt zu differenzieren. In vielen Fällen und Situationen liegen die Dinge nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Das erschließt sich auch losgelöst vom Glauben: Es gibt nette Menschen, die Böses tun. Es gibt gute Technologien, die der Umwelt schaden. Es gibt Grauzonen in der Politik, der Wirtschaft, in Klimafragen. Genauso gibt es in der Welt des christlichen Glaubens Standpunkte und Perspektiven, die sich auf den ersten Blick unversöhnlich gegenüberstehen. Gerade in dieser Polarität aber ergänzen sie sich auf hilfreiche Art und Weise.[2] Die Liste der Möglichkeiten ist lang, deshalb an dieser Stelle nur drei Beispiele:

Gott gibt dem Menschen das Sabbatgebot und fordert ihn auf, zu ruhen. Dabei aber soll es nicht bleiben. Er ist aufgefordert, die Erde zu bebauen und zu bewahren – zu arbeiten.[3]

Im Zentrum des Glaubens steht ein Erlösungsgeschehen – wir sind zur Freiheit berufen.[4] Doch es gibt keine absolute Freiheit. So geht es für Glaubende nie darum, sich von Gott zu befreien. Auch ist keiner von ihnen auf einen Schlag seine Sünden und Unvollkommenheiten los. Er kann auch niemals losgelöst von seinem Umfeld, seiner Herkunft und von anderen Menschen leben. Freiheit immer relativ. Es kommt darauf, worauf wir diesen Begriff beziehen.

Christinnen und Christen sind Menschen, zu denen Gott spricht, die er führt und bewahrt – so lauten viele biblische Verheißungen.[5] Gleichzeitig ersetzt dies kein eigenes Denken und Entscheiden. Genauso wenig sind Glaubende von allem Leid und allem Schmerz abgeschirmt. Sie erleben Schweres, Unverständliches – wie andere Menschen auch. 

Ein erwachsengewordener Glaube hat gelernt, mit solchen Polaritäten zu leben. Er versteht, dass sie zum Menschsein gehören und sein Leben bereichern. Wer erwachsen glaubt, lässt eindimensionale Vorstellungen vom Leben, von Gott und von sich selbst los. Er bejaht Komplexität und löst sich von allzu einfachen Erklärungen zu den großen Fragen des Lebens. In widersprüchlich erscheinenden Aussagen der Bibel erkennt er ein wirksames Mittel gegen Verkürzung und Engführung.

Nun führt ausgerechnet die wachsende Differenzierung bei manchen Christinnen und Christen zu einer Loslösung vom Glauben. Viele von ihnen sind mit unreflektierten, christlich gefärbten Stereotypen aufgewachsen. Nun hinterfragen sie nicht bloß solche lang geglaubten Verengungen, sondern den Glauben an sich. Differenzierendes Denken führt dann nicht zum Hineinfinden in eine tiefere Dimension des Glaubens, sondern zu einer sogenannten „Entkehrung“. Die positive Alternative wäre eine befreite Sicht, die zu neuer Weite und Tiefe im Glauben führt. Ihr wichtigstes Kennzeichen ist nach Hebräer 5,14 ein gereiftes Urteil: Mein Bild von Gott, der Welt, dem Nächsten und mir selbst weitet sich, so dass in Folge davon mein Denken, Handeln und Entscheiden auf einem solideren Fundament steht. Die Wurzeln meines Glaubens werden tiefer, mein Vertrauen und meine Liebe zu Gott echter und standhafter. 

Erwachsen glaubt, wer sich selbst annimmt

Der Religionsphilosoph Romano Guardini schrieb 1960 ein kleines Buch mit dem Titel: Die Annahme seiner selbst.Darin beschreibt ein aus meiner Sicht wesentliches Kennzeichen eines erwachsen gewordenen Glaubens: Die Fähigkeit (oder mehr noch: die bewusste Entscheidung) eines Menschen, sich selbst in seinem So-sein anzunehmen. Guardini argumentiert nicht primär psychologisch, sondern theologisch: Wer in Gott seinen Ursprung hat, wer dessen Zuwendung erfährt, aber auch seinen Anspruch erkennt, der bejaht auch sich selbst. Er erfasst, wie sehr er sein Leben und Atmen Gott verdankt. Was für ein Geschenk es ist, mit einer Seele, einem Verstand und einem Körper ausgestattet zu sein. Davon ausgehend geht ein solcher Mensch noch einen Schritt weiter und anerkennt: „Ich bin Gottes erste Gabe an mich selbst“[6]. Damit redet Guardini nicht einer egoistischen Selbstbezogenheit das Wort. Ihm geht es darum zu zeigen, dass zu den Gaben, die ich von Gott empfange, auch ich selbst gehöre. Ich bin mir selbst gegeben. Auch meine Aufgaben beziehen sich nicht bloß auf Gott und meine Mitmenschen. Ich habe sie auch an mir selbst. Erst wenn ich das verstehe und bejahe, laufe ich nicht länger vor mir selbst davon. Ich erkläre mich damit einverstanden, derjenige zu sein, der ich bin. Ich höre auf, mich ständig beweisen und erklären zu wollen. Ich stelle mich zu meiner Wirklichkeit und finde darin Frieden.

Ich erkläre mich damit einverstanden, derjenige zu sein, der ich bin.
Thomas Härry

Demgegenüber leben viele unmündige Menschen mit einem verinnerlichten Refrain, der ihnen suggeriert: „Ich muss anders sein! Ich muss dazugehören. Um dazuzugehören, muss ich mich anpassen. Ich muss den Wunschvorstellungen entsprechen, die ich selbst und andere an mich herantragen.“ Der unmündige Mensch lebt in ständigem Unfrieden mit sich selbst. Er ist den unterschiedlichsten Erwartungen, Meinungen, Lebensentwürfen und Ideologien aus seinem Umfeld ausgeliefert. Paulus beschreibt diesen Menschen in Epheser 4,14: Er ist „von Wellen bedrängt und von jedem Wind einer Lehrmeinung umhergetrieben, dem Würfelspiel der Menschen ausgeliefert“. Unreife im Leben und im Glauben besteht hier darin, dass dem Menschen ein inneres Gewicht fehlt, das ihm Halt und Standfestigkeit verleiht. Weder eine große Karriere, ein akademischer Abschluss, ein gutes Gehalt oder ein dickes Portemonnaie vermögen das zu kompensieren. Sie bleiben künstliche Stützen. Wenn sie wegbrechen, lassen sie den Menschen zerzaust und gebrochen zurück. 

Reifer Glaube ist ein innerer Besitz. Er beginnt damit, dass ich auf dem Boden von Gottes bedingungslosem Ja ein entschiedenes Ja zu mir selbst finde. Guardini bezeichnet dieses bewusste Ja als den „auf mich gerichteten Willen Gottes, ich solle sein, und der sein, der ich bin. Frömmigkeit bedeutet, sich immer wieder aus diesem Willen Gottes entgegenzunehmen. Das ist das A und O aller Weisheit. Die Absage an die Hybris (Vermessenheit). Die Treue zur Wirklichkeit“[7]. Meine Wirklichkeit ist gemäß Guardini die Person, die ich wirklich bin. 

Erwachsen glauben bedeutet also, im Blick auf mich selbst zur Ruhe zu kommen und mich anzunehmen. Die Aufgaben anzunehmen, die mir im Umgang mit mir und meinem So-sein gestellt sind. Das bedeutet nicht, dass ich meine Schwächen und Fehler verneine oder schönrede. Im Gegenteil: Erwachsen glaube ich, wenn ich mich verantwortlich zu ihnen stelle. Noch einmal Guardini: „Alles Geschehene, das Schlimmste wie das Beste, kann im Charakter geändert werden, indem wir neu zu ihm Stellung nehmen und daraus die uns möglichen Konsequenzen ziehen. Unser Leben ist dann das, wozu diese Stellungnahme es macht.“[8] Das heißt: Ich stelle mich nicht nur meinen guten Seiten, die anzunehmen mir leichtfällt. Ich stelle mich mir selbst auch dort, wo ich an mir leide. Ich bejahe, dass ich problematische, nach Veränderung rufenden Züge an mir trage. Ich nehme Stellung dazu; das heißt: Ich bekenne, bereue, gehe so damit um, dass Gottes Umgestalten darin Raum bekommt und Gutes wächst wo bislang Irrtum, Schuld, Verzweiflung oder Ichsucht herrschten. 

Erwachsener Glaube schießt nicht ins Kraut

Ein reifer Glaube ist nicht weniger anfällig für Irrtum und Selbstbetrug als ein unreifer. In gewisser Weise gilt sogar das Gegenteil. Wer auf dem langen Weg der Gottesfreundschaft gelernt hat, mehr zu lieben als zu streiten, Grautöne zu bejahen und manches differenzierter zu beurteilen; wer sich als Gabe und Aufgabe Gottes an sich selbst angenommen hat, der unterliegt ganz eigenen Gefährdungen. Eine davon besteht darin, andere Menschen in deren unreifen Verhaltensmustern zu durchschauen und zu bewerten. 

Ich erinnere mich an einen Urlaub am Meer. Ich befand mich in der Nähe einer Gruppe geübter Surfer, die am Stand saßen, ein Bier tranken und den Anfängern und weniger geübten Surfern zusahen, die sich draußen in den Wellen abmühten und immer wieder von ihrem Board purzelten. Einige Strandsitzer machen sich lustig über deren stümperhaftes Bemühen, das Segel hochzuziehen und dabei oben zu bleiben. Die Männer schwadronierten über diesen und jenen Fehler, lachten, klopften sich auf die Schenkel. Sie schienen vergessen zu haben, wie viele hundert, vielleicht tausend Mal sie selbst als Anfänger vom Board ins Wasser fielen. 

Manche auf den ersten Blick reife Christinnen und Christen verhalten sich ähnlich: Sie fühlen sich überlegen, während sie all jene beobachten und bewerten, die an all den Dingen scheitern, die ihnen selbst mittlerweile leichter fallen. Dies wiederum ist ein Hinweis auf eine ganz eigene Form der Unreife der ansonsten Gereiften: Man reibt sich herablassend an der Unreife anderer und wähnt sich besser als sie. Thomas von Aquin bezeichnet dies als eine Haltung, die sich fälschlicherweise als innere Größe versteht.[9] Wo innere Größe die Qualitäten einer Tugend hat, dort wagen und erreichen Menschen Großes, ohne andere dabei klein zu machen. Wo ein Mensch sich aber selbst überhöht und auf andere herabschaut, dort ist keine echte Größe, sondern Hybris, Vermessenheit. Sie führt von Gott weg. Zu einem erwachsenen Glauben gehört deshalb wesentlich auch die Geduld und die Gnade gegenüber Mitmenschen, bei denen sich unreife Verhaltensweisen zeigen. Wir können ihnen gegenüber barmherzig sein, wenn wir nicht vergessen, wie viele unreife Handlungen unseren eigenen Lebensweg säumen. Nicht bloß damals, vor Jahren, sondern bis in die Gegenwart hinein. In manchem Bereich unseres Lebens sind wir möglicherweise sogar kindischer geblieben als diejenigen, die gerade an ganz anderer Stelle in einem unreifen Lebens- oder Glaubensmuster feststecken. 

Anspruchsvoll und doch ganz einfach

Noch vieles wäre zu sagen. Es ist, wie wenn ich meine Frau in vier Begriffen beschreiben muss – es bleibt ein Kratzen an der Oberfläche. Dennoch: Was man bei einem erwachsenen Glauben immer findet, ist eine über lange Zeit hinweg erworbene Tiefe. Ein differenzierendes Urteil, das billige Phrasen meidet. Wohltuende Weite. Klärung bringende Sachlichkeit. Menschliche Liebe, Wärme und Annahme. All diese Eigenschaften wachsen auf einem Boden, in dem göttliche Gnade und menschliches Wollen in geheimnisvoller Weise ineinandergreifen. Wir stehen vor einem großen Paradox: Erwachsener Glaube ist ein unverdientes Geschenk und zugleich eine uns täglich gestellte Aufgabe. Es ist kein Selbstläufer. Dennoch zeichnet ihn eine schon fast verblüffende Einfachheit aus. Erwachsen glauben heißt immer auch: In kindlicher Einfalt vertrauen. Sich frei und getrost auf die großen Zusagen der Bibel verlassen und darin Halt finden. Ein Beispiel dafür sehen wir beim Schweizer Theologen Karl Barth. Der Autor der dreizehnbändigen, fast 10.000 Seiten umfassenden Kirchlichen Dogmatik und unzähliger weiterer, teils bahnbrechender theologischer Schriften, gilt bis heute als einer der wichtigsten theologischen Denker der letzten 200 Jahre. Doch je älter Barth wurde, umso mehr hielt er sich an die einfachen Wahrheiten des Glaubens. 1962 reiste er als 76-Jähriger in die USA, hielt Vorträge, sprach mit Studierenden, unter anderem in Richmond, Virginia. Dort fragte ihn ein Student, welche seiner zahlreichen theologischen Entdeckungen er für die wichtigste halte. Barth antwortete auf Englisch mit den Worten eines Kinderliedes: „Jesus loves me, this I know, for the Bible tells me so.“[10]  - „Jesus liebt mich, ganz gewiss, denn die Bibel sagt mir dies.“

Thomas Härry ist Theologe und Teil des Teams Bildung des TDS Aarau. Er zudem Referent, Berater für Führungskräfte und Autor mehrerer Bücher.

[1] Siehe 1.Korinther 13,13

[2] Ich habe mich dazu ausführlicher im zweiten Teil meines Buche Die Kunst des reifen Handelns (SCM R.Brockhaus) geäussert.

[3] Genesis 2,3 (vgl. Exodus 20,8-11) und Genesis 2,15

[4] So Paulus in Galater 5,1.

[5] Zum Beispiel in Psalm 23 und 91 oder in Johannes 10,27

[6] Romano Guardini (16. Aufl. 2020), Die Annahme seiner selbst. Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiss. (topos), S.33

[7] A.a.o., S.24

[8] A.a.o., S.25

[9] Thomas von Aquin (Jahr), Summe der Theologie. Band 3: Der Mensch und das Heil. Herausgegeben von Joseph Bernhart. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, S.490ff. In der deutschen Übersetzung wird das lateinische Wort „magnanimitas“ mit „Hochsinnigkeit“ übersetzt – ein heute kaum noch geläufiges Wort. Ich ersetze es hier mit der Bezeichnung „Innere Grösse“

[10] Joseph L. Mangina (2004) Karl Barth: Theologian of Christian Witness. Westminster, John Knox Press, S.9