Reportage | Gesellschaft

Kloster neu denken (2/2): erfahrbar

Sie sind kein Kloster – und leben doch gemeinsam eine Art «Ora et Labora». Sie sind Teil unserer modernen Gesellschaft – und schöpfen doch aus jahrhundertealten Traditionen. Was führt Menschen in solche «moderne Klostergemeinschaften»? Matthias Ackermann trifft Bewohnerinnen und erhält Einblicke in zwei Gemeinschaften, die noch keine zwei Jahre alt sind. Teil 2/2: Mehrgenerationenwohnen erfahrbar beim Kloster Fahr

Erfahrbar: Ökumenische Gemeinschaft in Nachbarschaft mit Benediktinerinnen

In den ehemaligen Räumen der Bäuerinnenschule des Klosters Fahr ist im Sommer 2023 eine neue Form des Zusammenlebens entstanden: erfahrbar, ein christliches Mehrgenerationenwohnen.

Möglich wurde es durch ein glückliches Zusammentreffen: Hier das Kloster Fahr, welches eine neue Nutzung für nicht mehr gebrauchte Gebäude und Betriebe suchte; dort die Vision der Ehepaare Neuenschwander und Meyer: Gemeinschaftliches Wohnen auf christlicher Basis – nach dem Vorbild von Genossenschaften. Mit dem Investor Prosperita (1) konnten sie das Haus totalsanieren.

Was rückblickend wie ein «Match fürs Leben» aussieht, bedurfte vieler Jahre intensiver Konzeptarbeit und Kommunikation mit Behörden, den Benediktinerinnen und potenziellen Mitbewohnenden. Und eines steten Festhaltens an der Vision: «Eine Vision wird im Hören und Beten geboren», meint dazu Julia Neuenschwander. Sie ist Hauptinitiantin von erfahrbar und teilt ihre Erfahrungen anlässlich der Projekttage Gemeinschaft der HF TDS Aarau. Ihre Vision: «Ein Haus mit Jesus im Zentrum und einer offenen Gemeinschaft unterschiedlicher Menschen, die je ihre Farbe hineinbringen.»

Die Gebäude der ehemaligen Bäuerinnenschule beim Kloster Fahr werden seit 2023 von erfahrbar genutzt. (Foto: Frédéric Giger)

Ein besonderer Ort mit langer Geschichte

Die Gemeinschaft lebt partnerschaftlich Seite an Seite mit 16 Benediktinerinnen des Klosters Fahr. Diese Nachbarschaft gibt dem Projekt erfahrbar ein einzigartiges Gepräge: «Wir beten an einem Ort, an dem seit 1000 Jahren gebetet wird», erzählt Julia begeistert. Das historische Kloster Fahr bietet also weit mehr als eine passende Infrastruktur für ein modernes genossenschaftliches Wohnen. Die Gemeinschaft ist sich des geistigen Erbes auf dem Areal bewusst und möchte es in die Gemeinschaft fliessen lassen. So lässt sich etwa Roger Meyer, Mitinitiant, zitieren (2): «Die Benediktsregel (3) enthält viele praxistaugliche Aspekte, die im gemeinsamen Alltag dienen.» Schwestern und Bewohnende treffen sich im Rahmen von monatlichen Inspirationsabenden zum gemeinsamen Austausch.

Wir beten an einem Ort, an dem seit 1000 Jahren gebetet wird.
Julia Neuenschwander Initiantin von erfahrbar

«Geduld ist die erste Frucht der Liebe»

Neben der Annäherung der beiden Gemeinschaften – hier die monastische Tradition z. B. mit einem Klausurbereich, dort die ökumenische Offenheit und unterschiedliche Wohnformen – erforderten auch andere Bereiche viel Geduld: «Unser Projekt musste mit dem Gewässerschutz oder dem Heimatschutz kompatibel sein. Da gab es viele Hürden», meint Julia rückblickend. «Aber es lohnt sich, nicht aufzugeben, wenn eine Vision in dir drinsteckt!» Julia erzählt auch von «wundersamen» Bestätigungen, offenen Türen und Zuspruch, die sie in der Projektphase erhalten hätten.

Das Zusammenleben praktisch

Die Zusammensetzung der Gemeinschaft sei via Bewerbungsverfahren entstanden. Dabei habe man eine Durchmischung von Alter und Konfession im Voraus festgesetzt. Dass auch alle Landessprachen sowie verschiedene Berufsbranchen vertreten sind, birgt Potential. Dank dem Know-how in der Gemeinschaft müssen seltener externe Fachleute engagiert werden.

Die Verpflichtungen bei erfahrbar sind eher niederschwellig: Ein Gebet pro Woche, eine Stunde Arbeit pro Woche, ein gemeinsames Essen pro Monat, ein Inspirationsabend mit der Klostergemeinschaft pro Monat, ein Treffen pro Quartal. So bleibt Freiraum für spontane Initiativen wie Gemüsegarten, Filmabende, Waffelnbacken bei Regenwetter, ein tägliches Gebet in der Fastenzeit, ungeplante soziale Kontakte im Alltag, niederschwellige Hilfestellungen und Unterstützung beim Kinderhüten. Diese gelebte Nächstenliebe und Prävention gegen Einsamkeit unterstreichen auch die beiden älteren Alleinstehenden: «Wenn man Hilfe braucht, ist immer jemand da.» Die Arbeit wird verteilt: Alle helfen mit in einem von acht Arbeitsbereichen, z. B. Teilen, Unterhalt, Gastfreundschaft oder Ökumene.

Der Schatz der Kirchen fliesst in unsere Gemeinschaft – und dann wieder hinaus in die Gesellschaft.

Die Gemeinschaft ersetzt nicht die Zugehörigkeit zu einer Kirche. «Die Leute sollen in ihren Kirchen aktiv sein. So fliesst der Schatz dieser Kirchen in unsere Gemeinschaft – und dann wieder hinaus in die Gesellschaft.»

innovatives Modell

Erfahrbar bietet offiziell kein betreutes Wohnen an. Aktuell bewohnt jedoch eine alleinerziehende Flüchtlingsmutter ein Gästezimmer, welches vom Sozialamt gemietet wird – ohne offiziellen Betreuungsauftrag, aber doch mit freiwilliger Unterstützung der Gemeinschaft (z. B. Velofahren lernen). Ein junger IV-Bezüger wird von erfahrbar im Wohncoaching unterstützt.

Erfahrbar ist einzigartig in der Schweiz. Dies zeigt sich einerseits in den äusseren Strukturen: Die Gebäude gehören dem Kloster Fahr, das Baurecht liegt bei einem Investor, der Verein erfahrbar verwaltet das Wohnprojekt. Bewohnende zahlen marktübliche Mieten. Die Gemeinschaft kommt mit relativ wenig Verbindlichkeiten aus und ist doch klar geregelt. Sie ist attraktiv – es gibt eine lange Warteliste für Interessierte. Sie ist gross – rund 45 Menschen leben dort. Ausserdem gibt es ein Appartement für Gäste, Interessierte oder Menschen in besonderen Lebenssituationen.

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(1) Die Pensionskasse Prosperita orientiert sich an christlich-ethischen Grundwerten und fördert das Projekt erfahrbar sowohl finanziell als auch ideell von Beginn an.

(2) Aus: «erfahrbar» – Christliches Generationenwohnen in der ehemaligen Bäuerinnenschule beim Kloster Fahr. Eine Projektdokumentation der Age-Stiftung, Mai 2025

(3) Der Abt Benedikt von Nursia formulierte im Frühmittelalter spirituelle und praktische Anweisungen für ein Leben in (Kloster-)Gemeinschaft.

Drei TDS-Absolventinnen bei erfahrbar

Was schätzen sie an erfahrbar? Wie war ihr Weg dorthin?

Miriam Trachsel

Nach der Matur habe ich während einem Zwischenjahr für mehrere Monate in der Gemeinschaft Nidelbad gelebt und bin da zum ersten Mal mit gemeinschaftlichem Leben in Berührung gekommen. Das hat mich fasziniert. Als Familie haben wir dann vier Jahre in Montmirail gewohnt. Da ich mich dort aber als junge Mutter einsam fühlte, überlegten wir uns, wegzuziehen (natürlich hatte es noch andere Gründe...). In dieser Zeit lernten wir Julia und Ueli Neuenschwander kennen, welche in Montmirail Ferien machten. Wir fanden ihr Projekt erfahrbar von Anfang an spannend. Besonders den Aspekt der Ökumene und der unterschiedlichen Generationen fand ich anziehend.

Gerade als Alleinerziehende hat ein solcher Ort, an dem man sich kennt und unterstützt, sehr viele Vorteile.
Miriam Trachsel Bewohnerin von erfahrbar, TDS-Absolventin

Kurz vor den Bewerbungsgesprächen fürs erfahrbar wurde ich alleinerziehend. Nach ersten Zweifeln, ob ich auch alleine mit den Kindern Teil des Projektes sein möchte, habe ich mich entschlossen, keinen Rückzieher zu machen. Diese Entscheidung hat sich im Nachhinein als "richtig" entpuppt. Meine Kinder und ich fühlen uns hier sehr wohl und gerade als Alleinerziehende hat ein solcher Ort, an dem man sich kennt und unterstützt, sehr viele Vorteile. Wie im Artikel erwähnt, stehen alle Mitglieder auf eigenen Füssen – das ist bei mir auch so. Gleichzeitig entlastet es mich extrem zu wissen, dass ich in Ausnahmesituationen Hilfe hätte.

Was ich besonders schätze sind die spontanen Begegnungen. Gerade im Sommer gibt es so viele tolle Feierabend-Momente, die ich enorm geniesse. Für mich ist Ökumene wichtig und ich freue mich sehr die unterschiedlichen kirchlichen Hintergründe in der Gemeinschaft. Ich fühle mich in meiner Art zu glauben angenommen und schätze die Horizonterweiterung, welche die Gespräche mit anderen mit sich bringt.

Ich arbeite zu 50% als Sozialdiakonin in Dietikon. An der Arbeit schätze ich vor allem die Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen. Ich lerne Menschen in herausfordernden Lebenssituationen kennen. Sie ein Stück auf ihrem Lebensweg begleiten zu können, finde ich bereichernd. Für mich ist es entscheidend, dass sich Kirche nicht ausschliesslich um sich selber dreht sonder den Auftrag der Nächstenliebe sehr ernst nimmt. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich in einer Kirche arbeite.

Ich merke bei der Arbeit und bei erfahrbar immer wieder, wie sich Türen öffnen, wenn wir Menschen urteilsfrei begegnen. Seien es Menschenaus einer anderen Kultur – wie in meinem Beruf – oder Menschen, welche ihr Christsein anders leben – wie im erfahrabar.

Regula Rechsteiner

Ich lebte die ersten 38 Jahre meines Lebens in der Stadt Zürich. Da fiel es mir schwer, von der Umgebung und dem sozialen Umfeld Abschied zu nehmen.
Seit wir uns kennen, setzten mein Mann und ich uns immer wieder mit gemeinschaftlichen Wohnprojekten auseinander.  Beim erfahrbar war es für meinen Mann dann klar: Das ist es! Ich brauchte noch etwas Zeit … ;-)

Entscheidend für meinen Entscheid waren drei Punkte:

  1. Die geografische Lage: Nahe bei der Limmat, ländlich – dieser Aspekt hat noch an Bedeutung zugenommen, seit wir hier wohnen. 

  2. Der Gedanke der bewusst gelebten „Einheit in Verschiedenheit“ dieses ökumenischen Wohnprojektes.

  3. Die Nähe zu den Benediktinerinnen und damit die Möglichkeit, an ihren Tagzeitengebeten teilnehmen zu können. Mein Glaube wird sozusagen unterstützt werden von der Umgebung.

  4. Das bewusste nachbarschaftliche Teilen, das gemeinsame Unterwegssein nach dem Motto «ein Dorf erzieht ein Kind».

Die Herausforderung für mich als beziehungsorientierter Mensch ist: Das Mass finden zwischen mich in die Gemeinschaft hineingeben einerseits und als Familie das eigene Leben haben andererseits. Unsere Wohnung befindet sich neben dem Eingang, wo sich vieles abspielt – und ich entsprechend viel mitbekomme. Hier darf ich lernen, mich von der einen oder anderen Lebenssituation abzugrenzen

Was uns von einer ‘normalen’ Genossenschaft unterscheidet: Das gemeinsame Gebet verbindet uns.
Regula Rechsteiner Bewohnerin von erfahrbar, TDS-Absolventin

Aber klar, die Gemeinschaft ist bereichernd und auch praktisch: «Hast du mir ein Ei?», oder «kannst du rasch auf meine Kinder aufpassen?» Wir können uns ein Auto teilen, und, was uns von einer «normalen» Genossenschaft unterscheidet: gemeinsam beten. Der Glaube verbindet uns.

Ich arbeite aktuell grad nicht mehr als Katechetin. Aber ich schaue gern zurück auf die 11 Jahre seit meinem TDS-Diplom. Mit Kreativität den Kindern den Glauben näherbringen – und dadurch auch den Eltern – das hat mir gefallen. In der Gemeinschaft konnte ich auch geistlich auftanken – ganz losgelöst von meiner Rolle als Sozialdiakonin bei der Arbeit hatte. Und ab und zu kann ich mit einer Idee aus der Sozialdiakonie die Gemeinschaft bereichern, z. B. mit einem kleinen Segnungsritual zum Schulanfang.

Patricia Egli

Als ich von erfahrbar erfuhr, war ich sofort hellhörig. Schon in jungen Jahren war ich an „alternativen“ Wohnformen interessiert und lebte in verschiedenen Wohngemeinschaften. Als ich dann - relativ spät - eine Familie hatte, wurde mir noch deutlicher, dass das „Kleinfamilientum“ (eigenes Haus, für sich alleine etc.) gar nicht meinen Vorstellungen entspricht. Gleichzeitig vermisste ich am üblichen genossenschaftlichen Wohnen (und in den meisten WGs) den gemeinsamen Fokus im Glauben.

«Schon in jungen Jahren war ich an ‘alternativen’ Wohnformen interessiert und lebte in verschiedenen Wohngemeinschaften.»
Patricia Egli Bewohnerin von erfahrbar, TDS-Absolventin

Genau dies schätze ich bei erfahrbar: Wir alle erwarten und erleben Gott im Alltag. Zudem wollen wir Zeit, Gemeinschaft und das Leben teilen. Entsprechend sind die Türen offen, das gegenseitige (Aus-)Helfen ist selbstverständlich. Ein grosses Wohlwollen und eine Offenheit prägt unsere Gemeinschaft. Gerade als Eltern eines Einzelkindes sind wir glücklich darüber, dass unser 8-jähriges Mädchen in diesem Umfeld aufwachsen darf.

Ich arbeite seit drei Jahren in Oberwinterthur als Sozialdiakonin. Ich bin verantwortlich für den Bereich Kind& Familie und die Anlaufstelle für Freiwilligenarbeit. Ich liebe an meinem Beruf die Vielfalt, wie ich mit den Menschen unterwegs sein kann. Ich liebe es, dass Menschen sich bei uns einerseits wohl und zuhause fühlen können, andererseits sich mit ihren Begabungen, Wünschen und Fähigkeiten einbringen (Empowerment, Beteiligungskirche).

Skills aus meinem Beruf können bei erfahrbar einfliessen. Umgekehrt profitieren auch meine beruflichen Beziehungen durch meine Erfahrungen im Zusammenleben bei erfahrbar. Es sind zwei unterschiedliche Arten, mit Menschen unterwegs zu sein - das bewusst wahrzunehmen, die Unterschiede und Überschneidungen zu sehen ist lernreich.

Die Fachstelle Gemeinschaft

Julia Neuenschwander bringt ihre Erfahrungen auch im Verein Offene Tür ein, der gemeinschaftliches Leben fördert. Sie arbeitet bei der Fachstelle Gemeinschaft, welche Ideen von gemeinschaftlichem Wohnen unterstützt und als Drehscheibe Interessierte mit Immobilien, Investoren oder Architektinnen zusammenbringen möchte.

Die Fachstelle reagiert damit auf die abnehmende Nutzung von kirchlichen Gebäuden und den Rückgang von klösterlichen und kommunitären Gemeinschaften. Sie sieht in gemeinschaftlichem Wohnen mit Jesus Christus im Zentrum eine ideale Möglichkeit, die Gebäude im ursprünglichen Sinn und Geist weiter zu benutzen – und einen bereichernden Lebensstil mit Tradition und Zukunft.

Hast du eine Idee für gemeinschaftliches Wohnen?

... aber dir fehlen Haus, Wohnung, Finanzen oder anderes Know-how? Möchtest du gerne Teil werden eines Wohnprojekts? Besitzt du oder deine Kirchgemeinde Immobilien, deren Nutzung ihr neu entwickeln möchtet?

Melde dich gerne bei Julia Neuenschwander (Kantone Zürich und Aargau) sowie die Fachstelle Offene Tür (Website | E-Mail) für die übrige Schweiz.