
Thomas Härry plädiert für mehr Gottesdienst in Leitungsgeschäften. Als ehemaliger Gemeindeleiter der Minoritätsgemeinde Aarau kennt Thomas Härry die Herausforderungen des Leitens aus eigener Erfahrung. In seiner Rolle als Referent und Berater spricht er oft zu Leitenden in Kirchgemeinden, Werken und in der Wirtschaft. Härry suchte nach einer theologischen Basis fürs Leiten und nach unkonventionellen Modellen. Fündig wurde er dabei unter anderem bei Ignatius von Loyola und den Quäkern. Er teilte seine Ideen an der Begegnungwoche im Januar 2019 in Seewis.
Produktive Paranoia
«Die Tragweite von Entscheidungen ist für das Mass an Sorgfalt ausschlaggebend», so Thomas Härry einleitend. Leitende Menschen seien oft Macher und überzeugt von einer neuen Idee. Daher unterliessen sie manchmal eine angemessene Risikoanalyse. Thomas Härry rät daher zu einer «produktiven Paranoia». Eine Entscheidungsfindung benötige ein gesundes Mass an Respekt. Es müsse abgewogen werden, welche Risiken mit einer bestimmten Entscheidung verbunden seien: «Zum Leiten gehört das Entscheiden, und zuvor ein sorgfältiges Abwägen und Prüfen der Optionen.»
Biblische Wurzeln
In der Bibel wird diese Prüfung und Unterscheidung thematisiert: Hebräer 5,14 spricht von der Unterscheidung (gr. diakrino) zwischen gut und böse, richtig und falsch:
«Feste Speise aber ist für die Vollkommenen, die durch den Gebrauch geübte Sinne haben, Gutes und Böses zu unterscheiden.»
Andere Bibelstellen verwenden das griechische dokimazo: prüfen, beurteilen was recht oder richtig ist / dem Willen Gottes entspricht. So z. B. Epheser 5,10:
«Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist.»
Das Prüfen im biblischen Sinn könne so verstanden werden, dass kognitive Fähigkeiten, Erfahrung und Weisheit eingesetzt werden. Laut Philipper 1,9–10 ganzheitlich: In einer rationalen, emotionalen und spirituellen Dimension, ineinanderfliessend und sich ergänzend: «Ich bete darum (spirituelle Dimension), dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis (rationale Dimension) und aller Empfindung (emotionale Dimension), sodass ihr prüfen könnt, was das Beste ist.»
ls Fazit formuliert Härry: «Prüfen meint das prüfende Einschätzen und Abwägen von Sachverhalten, Umständen und Optionen, um in einer relevanten Frage Entscheidungen treffen zu können, die dem Wesen und den Werten des christlichen Evangeliums möglichst entsprechen.»
Dieser Prozess des Prüfens erfolgt ganzheitlich: Nach rationalen, emotionalen und spirituellen Kriterien, die ineinanderfliessen und sich ergänzen. Wesentlich bei Entscheidungen: Sie seien primär die Frucht einer geistlichen Lebenshaltung und weniger eine Frage methodischer Kompetenz: «Wir wollen nicht nur Entscheidungsfindung praktizieren; wir wollen Menschen mit einem feinen Gespür für Entscheidungen werden», zitiert Härry Gordon T. Smith (in Listening to God in Times of Choice).
Prüfen, beurteilen und entscheiden in Gruppen
Wir kennen die Situation: Ein Team sucht nach einer Lösung. Es werden ein paar Voten genannt und diskutiert. Dabei sind die Standpunkte mehr oder weniger schon festgelegt und die Voten haben lediglich den Zweck, den eigenen Standpunkt zu bekräftigen. Doch es geht auch anders. Dies zeigen vorerst zwei Beispiele aus der Geschichte und dann ein Ansatz von Thomas Härry.
Ignatius von Loyola
Der Ordensgründer und Mystiker Ignatius von Loyola lehrt, nicht auf die eigentliche Sachfrage zu fokussieren, sondern auf die dahinterliegenden Motive. Heiraten oder ledig bleiben? Ins Kloster eintreten? – Unwesentlich! Wesentlich ist, dass du dein Leben ganz loslassen kannst. Dass du deine vorgefasste Meinung, deine Sicht, ja, deine Präferenz in einer Frage ganz Gott abgeben kannst. Erst wenn du indifferent, also völlig frei und unentschieden in einen Entscheidungsprozess einsteigen kannst, legst du eine Entscheidung wirklich offen Gott hin.
Quäker
Eine Hilfe, in den erwähnten indifferenten Zustand zu kommen, ist bei den Quäkern die Stille. Bei der Denomination der Quäker verläuft ein Entscheidungsfindungsprozess in etwa so: Eine Leitungsperson, der Clerk, ruft nach einer gewissen Zeit der Stille Einzelne zum Reden auf. Die Voten werden nicht kommentiert. Wenn der Clerk einen Konsens «fühlt», verkündet er die Entscheidung. Der Prozess soll dazu führen, dass alle Beteiligten inneren Frieden in Bezug auf die Entscheidung haben.
Die «Liturgie» von Entscheidungsfindungen
In seinem Ansatz stützt sich Thomas Härry auf «Discerning God’s Will Together» von Danny E. Morris und Charles M. Olsen. Jeder der zehn Schritte sei wichtig auf dem Weg zu einer gereiften und nachhaltigen Entscheidung. Härry rät, auch mit der Form zu experimentieren: «Warum nicht auch eine Sitzung mit der gleichen Sorgfalt und mit Elementen eines Gottesdienstes planen?» Eine Sitzung könne sehr gut auch als Liturgie gestaltet werden, unterbrochen durch Stille, Lieder und Bibelworte. Geistliche Symbole und Rituale können z. B. gerade Schritt 3 (Hindernisse loslassen) massgeblich unterstützen. Dazu können z. B. Stationen des Loslassens am Kreuz oder vor einem Bibelvers besucht werden.
«Warum nicht eine Sitzung als Liturgie gestalten, unterbrochen durch Stille, Lieder und Bibelworte?»
Abschliessend betont Härry: «Geistliches Leiten geschieht durch dreifaches Hören: Auf Gott, aufeinander und auf mich selbst.» Aufeinander hören meint aktives Zuhören, das Einholen von fachlichem Rat, das Achten auf die Weisheit und Erfahrung von anderen. Auf mich selbst hören heisst auch ein Bewusstmachen meiner Neigungen, Vermeidungen, Hoffnungen und Ängste.
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Thomas Härry, M.A. in Theologie, arbeitet als Dozent und Referent für Theologie, Gemeindearbeit und Leiterschaft am TDS Aarau. Zudem ist er Buchautor.