Bericht

Armut kann auch uns wehtun

Matthias Ackermann

Am 18. und 19. März fanden an der HF TDS Aarau Projekttage zum Thema Armut statt. Studierende widmeten sich dem Thema an Referaten, in Workshops, Austauschgruppen und kreativen Vertiefungen.

«Sich dem Thema Armut zu stellen braucht Mut.» Mit dieser Aussage eröffnet Christoph Schwarz die Projekttage und fügt hinzu: «Wir wollen uns dem Thema öffnen. Dazu müssen wir einen Schritt ins Leiden gehen, Anteil nehmen. Das kann auch wehtun. Jesus Christus lädt uns dazu ein.» Und doch: Wir sollten nicht mutlos werden angesichts der grossen Armut, sondern fragen: Was können wir tun? «Lasst uns den Heiligen Geist bitten, dass er uns Erkenntnisse schenke und Herzen öffnet.»

Jann Knaus aus der Klasse I leitet die Anwesenden an im Singen eines Kirchenliedes und eines Gospelsongs, passend zum Thema:

Komm in unser reiches Land, der du Arme liebst und Schwache,
dass von Geiz und Unverstand unser Menschenherz erwache.
Schaff aus unserm Überfluss
Rettung dem, der hungern muss.

- Hans von Lehndorff

Reichtum und Armut – Segen und Versuchung

Theologe und TDS-Dozent Stefan Wenger beleuchtet das Thema aus einer theologischen Perspektive. Er durchstreift die Bibel und gliedert sein Referat: Was einmal war, was alles verdarb, was jetzt ist und was sein wird. Der Anfang der Bibel, das erste Kapitel von Genesis, zeige: «Gott möchte, dass alles existiert. Er wünscht sich blühendes Leben.» Unser Auftrag sei es, dieses Leben zu kultivieren, also Gottes Auftrag weiterzuführen.

Nach dem Sündenfall zeige die Bibel eine gewisse Ambivalenz zum Thema: «Reichtum und Armut können einerseits segensreich sein – andererseits auch eine Versuchung für die Menschen.» Sprüche 30,8 verdeutlicht dies:

Gib mir weder Armut noch Reichtum, gib mir zu essen, soviel ich brauche, damit ich nicht satt werde und dich verleugne und sage: «Wer ist der HERR?», und damit ich nicht verarme und stehle und den Namen meines Gottes nicht missbrauche.

Stefan Wenger bei seinem Referat: «Für die Armen ist in besonderer Weise das Reich Gottes bereitet worden.»

Für die Armen gelte in der Bibel: «Gott ist ein Anwalt der Schwachen. Für sie ist in besonderer Weise das Reich Gottes bereitet worden.

Mit Zitaten aus dem Buch der Offenbarung beendet Stefan Wenger sein Referat: «Gottes ewige Welt wird sein ein Ort jenseits aller Trauer und Mühsal. Mit diesem Ziel vor Augen können wir die Reise besser planen.» Und er schliesst: «Wer gerecht und barmherzig lebt, spricht bereits die Sprache von Gottes kommender Welt.»

Armut in der Schweiz

Einen anderen Zugang zum Thema gibt uns Dr. Aline Masé. Sie leitet die Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz. Ihr Referat zeigt auf, dass Armut in der Schweiz (immer noch) weit verbreitet und sogar am Wachsen ist. Die Armutsquote hat sich beispielsweise zwischen 2014 und 2021 um einen Drittel erhöht. Das Ziel der UNO-Agenda 2030 – die Halbierung der Armut – wird somit in der Schweiz weit verfehlt werden.

Gründe dafür sind vielfältig. Masé nennt etwa das Bildungsniveau, tiefe Löhne trotz prekärer Arbeit, schlechte (psychische) Gesundheit und eigene Kinder:

Risikofaktoren von Armut 

  • Fehlende oder nicht anerkannte Bildung

  • Erwerbslosigkeit

  • Tiefer Lohn, tiefes Pensum, prekäre Arbeit

  • Schlechte (psychische) Gesundheit

  • ein Schweizerpass; Herkunft ausserhalb Europas

  • Eingeschränkter Zugang zum System der sozialen Sicherheit

  • Kleine Kinder, mehrere Kinder – besonders für Alleinerziehende

Dr. Aline Masé von Caritas Schweiz schildert aktuelle Armutsbetroffenheit.

«Ich höre immer wieder: In der Schweiz gibt es doch Sozialhilfe!» Diese verhindere die Armut leider nicht. Einerseits sei sie zu tief angesetzt (siehe Grafik der Sozialhilfe im internationalen Vergleich), anderseits würden viele Menschen diese nicht beziehen, obwohl sie Anspruch hätten. Gründe für letzteres können sein:

  • Sie schämen sich dafür

  • sie wollen nicht abhängig sein vom Staat

  • sie befürchten, dass sie Schulden zurückzahlen müssen, wenn sie ihr Vermögen auflisten

  • sie befürchten, den Aufenthaltsstatus zu verlieren

Schweizer Sozialhilfe für Familienunterstützung im internationalen Vergleich

Gründe für eine erhöhte Armut bei Familien 

  • Kinder kosten und generieren keine Einnahmen

  • Eltern brauchen Zeit für Kinderbetreuung, die ihnen zur Erwerbsarbeit fehlt

  • Geringe Entlastung der Kosten für die Kinderbetreuung

Aktuelle Herausforderungen von armutsbetroffenen Personen sei die Teuerung. Die Konsumentenpreise sind seit 2020 stärker gestiegen als die Löhne. Hinzu kommt, dass die unteren Lohnschichten stärker von der Teuerung betroffen sind. «Nahrungsmittel oder Krankenkassenprämien machen bei ihnen einen viel höheren Anteil der Ausgaben aus. Entsprechend erhöht sich deren Anteil bei ihren Gesamtauslagen.» kommentiert Aline Masé eine Tabelle.

Die Erfahrungen von Caritas-Projekten bestätigen diese Entwicklung. Zwei Beispiele:

  1. Der Caritas-Markt bietet Menschen mit knappem Budget Produkte des täglichen Bedarfs zu Tiefstpreisen. Der Umsatz dieses Angebots ist seit 2022 aussergewöhnlich stark gewachsen.

  2. Die Sozial- und Schuldenberatung leistet deutlich mehr finanzielle Unterstützung und wiederkehrende Hilfe. Belastend sind etwa die Krankheitskosten (Krankenkassenprämien und Selbstbehalte). Der Einsatz von Kreditkarten bei Lebensmitteleinkäufen führt zu mehr Verschuldung.

Die Beispiele zeigen die Notwendigkeit von Einrichtungen wie Caritas. Caritas Schweiz setzt sich ein für eine Schweiz ohne Armut – durch politische Forderungen und praktische Unterstützung.

Mutanfälle in der Diakonie

Christoph Sigrist hat soeben im März mit 60 Jahren sein Pfarramt in der Grossmünstergemeinde Zürich niedergelegt. Er widmet sich nun ganz der Diakoniewissenschaft. Er ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater war Diakon. Beides – die erlebte Armut und der Beruf des Vaters – haben ihn geprägt. Heute ist er reich, sehr vernetzt und unermüdlich an verschiedenen Fronten daran, Geld für die Armen zu sammeln. Er spricht über Diakonie – sehr engagiert, sehr persönlich. Er lässt Geschichten und Erfahrungen sprechen, um uns Prinzipien der Diakonie näherzubringen. So z. B. der diakonische Dreisatz, der auf den Reformator Zwingli zurückgeht: 

  1. Armut hat immer mit Gott zu tun, der nicht neutral ist, sondern parteiisch auf der Seite der Armen steht. Sigrist zitiert den Psalm 82, wo Gott für die Geringen, Waisen, Demütigen und Bedürftigen einsteht.

  2. Geld ist nicht per se schlecht. «Geld kann diakonisch gewaschen werden», meint Sigrist und ergänzt: «Ich habe letztes Jahr 40’000 Franken erbettelt – von Reichen für die Armen …».

  3. Es braucht eine Ordnung beim Verteilen von Geld. «Helfen muss organisiert werden. Man musste die echten von den unechten Armen unterscheiden.»

«Dene wo's guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wo's weniger guet geit» – ein Kreativbeitrag einer Gruppe von Studierenden mit dem Lied von Mani Matter

Dann wird Sigrist konkret und teilt seine Erfahrungen und Prinzipien:

«Mein Einsatz für die Konzernverantwortungsinitiative hat mir viele rote Köpfe beschert.» Daraus habe er gelernt: «Das Evangelium ist immer politisch.»

Wichtig ist ihm auch, konsequent zu sein: «Ich zwinge mich immer, das, was ich predige, selber umzusetzen.» So habe er einmal vor Gott ein Gelübde abgelegt, dass er jedes Mal, wenn er an einem Surprise-Verkäufer vorbeilaufe, diesem ein Heft abkaufe. Er will eindeutig und direkt Partei nehmen für die Armen. Daraus sei z. B. sein Ja zur Initiative für eine 13. AHV-Rente zurückzuführen: «Ich bin mit einer 80-jährigen Frau in Kontakt, die am Rand der Armutsgrenze lebt. Sie würde profitieren von einem Ja zur 13.-AHV-Rente - also habe ich für sie gestimmt.» Auch wenn es Argumente dagegen gäbe …

Unter Diakonie versteht Christoph Sigrist dreierlei:

  1. Existentielle Nothilfe: Diese übernimmt grundsätzlich der Staat; Kirchen können mitwirken.

  2. Inklusionsorientierte Lebenshilfe: Wenn das Geld nicht reicht, um «dazuzugehören» … Sigrist erzählt, wie er über den Konfirmationsunterricht Einblick erhielt in Familien, die sich Lager oder Ferienpässe für ihre Kinder nicht leisten konnten. Hier konnte er zusammen mit der Schule subsidiäre (= unterstützende) Hilfe organisieren.

  3. Christliche Lebenskunst. Sigrist erzählt das Beispiel eines Managers, Vater eines Konfirmanden, der mit einer Frage auf ihn zukam. «Er hatte eine lebensbedrohliche Krankheit und musste die Frage klären, ob Gott existiert oder nicht. Er schämte sich dafür, dass er sich neu mit Gott befasste und die Kirche besuchte. Seit zwei Jahren führen wir nun regelmässig Gespräche über die ‘Christliche Lebenskunst’, bei denen ich selber enorm viel lerne.»

Unermüdlicher Anwalt für die Armen

Christoph Sigrist ist ein unermüdlicher Anwalt für die Armen. Geschickt und pointiert trägt er seine Anliegen in sein Netzwerk, forscht und lehrt darüber und ist immer bestrebt, selbst aktiv zu werden.

Und ringt doch auch immer wieder mit seinen Grenzen: «Ich bin ein Reicher und werde niemals gänzlich das Armsein nachempfinden können. Diese Spannung nehme ich mit ins Grab.» Um dieser Diskrepanz entgegenzuwirken, schlug er seiner Kirchenverwaltung einmal vor, die «abartigen» Pfarrlöhne um 5% zu senken, um damit einen Fonds zu gründen für minderbemittelte Jugendliche. «Nicht umsetzbar, deine Kollegen werden sich wehren», lautete die Antwort.

Weitere solche Spannungsfelder erwähnt Sigrist in der Fragerunde am Schluss des Referats: «Ich muss meine Schamgrenze überwinden, wenn ich über Geld rede. Z. B. beim Rotary-Klub, den ich um Unterstützung für ein kirchliches Projekt bitte.» Er fühle sich manchmal zwischen Prostitution und Profitie, wenn er für ein Gespräch mit einem Geldgeber eine Krawatte anziehe.

Zum Ende wünscht er den Studierenden einen «Mutanfall»: «Ihr habt einen der schönsten Berufe gewählt für die Kirche. Im Unterschied zur Pfarrperson wird euch nicht per se Macht zugesprochen. Die Ohnmacht in schwierigen Situationen in eurer Kirchgemeinde ist der Nährboden für eure Arbeit. In dieser Arbeit verkündet ihr genau dasselbe, wie die Pfarrperson am Sonntag auf der Kanzel.»

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