Editorial

Zuflucht in der Klage und der Hoffnung

Christoph Schwarz

Das biblische Buch der Klagelieder widerspiegelt die tiefe Verzweiflung und Trauer der jüdischen Überlebenden über die Zerstörung Jerusalems im Jahre 586 v. Chr.

So viel Elend und Totschlag ... Eine blühende Stadt mit blühendem Leben wurde von den Babyloniern vernichtet. Was nicht auszuhalten ist, macht sich Luft in den Klageliedern, und trägt die Trauer vor Gott.

Die Form überrascht: Die ersten vier Kapitel oder Gedichte folgen je dem hebräischen Alphabet. Es gibt für jeden Buchstaben einen Vers, von Aleph bis Taw, oder von A bis Z.

Sehr bewusst wird der Klage viel Raum gegeben – so, wie wir es heute kaum mehr gewohnt sind. Sorgfältig wird die ganze Trauer in Worte gefasst. Die Form soll helfen, dass nicht zu schnell darüber hinweggegangen wird. Jeder Buchstabe bekommt Raum, nichts soll vergessen werden, umfassend wird die Verzweiflung vor Gott ausgedrückt. Und das nicht nur einmal! Viermal wird das Alphabet durchgegangen! Vier Kapitel lang nur Klage! Und danach noch das 5. Kapitel voll Klage, wobei die akrostische Form im letzten Umgang aufgegeben wird.

Die Menschen fanden Zuflucht in der Klage. Das Schlimme auszudrücken half, es auszuhalten. Die Form beinhaltet auch Hoffnung: Das Klagen bleibt nicht endlos, es kommt mit dem letzten Buchstaben an ein Ende. Einmal kommt das Taw, und damit das Ende! Das Schlimme, das Böse ist nicht endlos, sondern begrenzt. Das letzte Wort hat nicht das Böse, sondern das Gute, Gott.

«Gott ist mein Ein und Alles – darum setze ich meine Hoffnung auf ihn.»
(Klagelieder 3,24)

So vermittelten die Klagelieder eine doppelte Hilfe: dass das Unfassbare zur Sprache kommen kann, und so die Seele entlastet. Und dass die Hoffnung gestärkt wird: dem Bösen ist eine Grenze gesetzt, es wird letztlich nicht triumphieren. Nach dem Karfreitag folgt Ostern.

Mögen diese alten Klagelieder uns und den vielen, die jetzt unsagbares Leid erfahren, eine Hilfe sein!

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Christoph Schwarz ist Rektor des TDS Aarau. Den Text schrieb er als Editorial des Magazins meinTDS vom Mai 2022 mit dem Titel Zuflucht.