Bericht

Wenn Meinungen trennen

Erwin Weibel

Umgang mit unterschiedlichen Überzeugungen in der Kirche
Dreht sich die Erde um die Sonne? Darf man Mäntel mit Knöpfen versehen? Dürfen Ungetaufte das Abendmahl nehmen? Manche Fragen führten im Verlauf der Kirchengeschichte in christlichen Gemeinschaften zu grossen Konflikten und Spaltungen. Rückblickend lösen viele Streitfragen Kopfschütteln oder zumindest ein Schmunzeln aus. Unterschiedliche Überzeugungen haben auch heute ein grosses Konfliktpotential. Wie können wir in unseren kirchlichen Gemeinschaften weise mit ihnen umgehen? Erwin Weibel formuliert fünf Leitsätze zum Schutz einer Gemeinschaft vor Spaltung und Streit.

Leitsatz 1: Wir gewichten den Fortbestand einer Gemeinschaft höher als den Anspruch, dass es nach unserer eigenen theologischen Überzeugung «richtig» zu und her geht.

Die Frage, unter welchen Bedingungen ein Mensch in eine versöhnte Beziehung zu Gott eintreten könne, forderte die Urgemeinde heraus. In Apostelgeschichte 15 wird dieser Konflikt beschrieben. Die Judenchristen aus Jerusalem vertraten die Überzeugung, dass Nichtjuden Christen werden konnten, aber nur über den Weg, dass sie zuerst Juden würden. Das bedeutete, das Gesetz des Moses und alle jüdischen Vorschriften einzuhalten. Durch dieses Tor kämen alle zum Glauben, einen zweiten Weg gäbe es nicht. Auf der anderen Seite standen Paulus, Barnabas und Glieder der Gemeinde aus Antiochia. Sie vertraten die Meinung, dass das ganze Evangelium auf dem Spiel stehe, wenn man von den Heiden erwarte, zuerst Juden zu werden. Es gelte, diese so anzunehmen, wie Gott die Zöllner und Sünder annimmt: bedingungslos.

Nach einer heftigen Debatte und grossem Aufwand entschieden sie sich für einen Kompromiss. Er machte es beiden Seiten möglich, aufeinander zuzugehen. Er wirkte für die Neubekehrten schützend und belastete die Mission nicht übermässig. Dieser Entscheid dokumentierte die Bereitschaft der Kirche, …

... die eigene Freiheit zum Wohl der Gemeinschaft einzuschränken («Barnabas/Paulus-Fraktion») und

... die eigene theologische Überzeugung zum Wohl der Gemeinschaft zurückzustellen (Judenchristen der Jerusalemer Gemeinde).

Dieser Kompromiss wurde allerdings nur in einigen wenigen Gemeinden umgesetzt.

Leitsatz 2: Im Zentrum der Auseinandersetzung über unterschiedliche Überzeugungen steht nicht, wer «recht» hat, sondern, was dem Frieden und dem Aufbau der Gemeinde dient. Einander annehmen, wie Gott es tut, hat erste Priorität.

In Römer 14 wird von einem Konflikt berichtet. Es geht um zwei Fragen: Ist es richtig, bestimmte Tage im Kalender als bedeutsamer zu erachten als andere? Ist es richtig, Fleisch zu essen, das Götzen geweiht ist? Von der Sache her vertritt Paulus die Meinung, dass das Hervorheben bestimmter Tage nicht nötig sei. Ebenso wenig müsse ein Christ auf dieses Fleisch verzichten – er könne auch so Gott ehren.

Interessant ist seine Argumentation denen gegenüber, die es anders sehen und die Fragen «gesetzlicher» beurteilen. Ihm ist wichtig, dass niemand die anderen aufgrund ihrer Überzeugung nicht annimmt, sie richtet oder auf sie herabsieht. Er erinnert scharf daran, dass hier gegen Gott gehandelt würde. Denn Gott nimmt beide an: den, der keinen Unterschied zwischen den Tagen macht und den, der alles Fleisch isst!

Ferner zeigt Paulus auf: Jemanden zu einer Handlung gegen seine Überzeugung zu verleiten bedeutet, ihn zur Sünde zu verleiten.

Zwischenfazit:

Sowohl in Apostelgeschichte 15 als auch in Römer 14 scheint mir, dass der Erhalt der Gemeinschaft und des Friedens innerhalb der Gemeinschaft primäre Bedeutung hat – vor der eigenen Überzeugung.

Interessant in diesem Zusammenhang scheint mir auch, wer bei unterschiedlichen Meinungen als klärende Instanz wirken soll: Die Gemeinschaft der Glaubenden nämlich. Sie soll klären, wenn eine Haltung oder eine Handlung eines Einzelnen so schwerwiegend ist, dass die Gemeinschaft zumindest temporär nicht mehr gegeben ist (vgl. Matthäus 18). Doch auch hier liegt der Fokus darauf, den Einzelnen für die Gemeinschaft zu gewinnen. Und: Unsere Entscheidungen sollen dazu dienen, dass die Verwundbaren und die «Neulinge» auf dem Weg der Nachfolge (die «Kleinen», wie Jesus sie in Matthäus 18 nennt) unsere Hilfe und Unterstützung bekommen.

Unsere gelebte Ethik sucht den Mittelpunkt, nicht die Grenze.

Leitsatz 3: Im Zweifelsfall wollen wir uns in Richtung Barmherzigkeit irren.

Dass wir als Gemeinschaft in einer pluralistischen Welt bestehen können, basiert auf einem gemeinsamen Fundament. Es beinhaltet, wie wir unterschiedliche Ansichten in ethischen Fragestellungen handhaben wollen. In unserer Gemeinde haben wir acht solche Haltungsprinzipien gemeinsam definiert. Zwei davon will ich hier erwähnen:

1. Unsere gelebte Ethik sucht den Mittelpunkt, nicht die Grenze. Eine gesetzesorientierte Ethik benutzt Grenzen, um zu definieren, wer dazugehört und wer nicht. Wir hingegen versuchen zu definieren, was der von Gott gegebene Mittelpunkt, der biblisch-ethische «Idealzustand» ist, den Gott uns zu unserem Besten vorgibt und der Teil der guten Nachricht ist. Unsere Ethik soll dazu beitragen, Jesus ähnlicher zu werden. Wir alle sind seine Lehrlinge, die auch nach einem Scheitern wieder neu anfangen dürfen. Wir ermutigen uns darum gegenseitig auf dem Weg der Nachfolge. In diesem Sinn verstehen wir uns nicht als gegenseitige Grenz-Polizisten, sondern als Menschen, die einander ermutigen und herausfordern auf dem Weg, Jesus ähnlicher zu werden.

2. Wir unterscheiden zwischen einer biblischen (Ideal-) und einer gelebten (Real-)Ethik. Gottes Weisung will uns Menschen zu dem hinführen, was ganz und gar gut für uns ist. Das versuchen wir mittels biblischer Ethik zu beschreiben. Die gelebte Ethik, unsere ethische Realität, steht aber meistens in einer Spannung zur biblischen Ethik. Gott zieht uns zu seinem Ideal-Konzept hin, und dahingehend wollen wir lehren (Idealethik). Dabei sind wir uns bewusst, dass unser Misstrauen uns manchmal im Weg steht.

Leitsatz 4: Wir entscheiden uns fortwährend für ein weiches Herz.

Seit Tausenden von Jahren scheitert die Menschheit immer wieder an ihrer Hartherzigkeit. Diese verursacht grosse Nöte – sei es in der Politik oder in unserer Gesellschaft. Und doch lernen wir daraus nur wenig. Äusserer Druck bewirkt in den wenigsten Fällen eine Gesinnungsänderung. Ich glaube, Gott weiss, dass sich das versteinerte Herz eines Menschen nur von innen heraus verändern kann.

Das Herz ist im hebräischen Denken sowohl das Organ des Verstehens wie auch des Wollens. Wenn Gott uns ein neues Herz gibt, dann ist damit gemeint, dass er uns ein Herz schenkt, das zu neuem Handeln willig ist. Ein Herz, das will, was er will. Sich ein weiches Herz zu erhalten heisst aus meiner Sicht, dass ich mir die Haltung des Hörens bewahre:

Hören auf Gott, wie er sich uns (z. T. vielfältig) in Wort und Tat in der Bibel zeigt

Hören auf meine Mitmenschen/Mitglaubenden (Ansichten, Ängste, Überzeugungen, Motive, etc.)

Hören auf mich (was sind meine Motive, Ängste etc.)

Ein hartes Herz hat seine Entscheidung schon getroffen. Es weiss, was richtig und falsch ist. Es will nicht mehr zuhören, weil es seine Überzeugung nicht ändern will. Eine andere Sichtweise anzuhören scheint ihm sogar gefährlich zu sein. Überhaupt ist es oft von Ängsten und Sorgen bewegt (vergleiche Matthäus 6).

Leitsatz 5: Leitungs-Gewalt jeglicher Form ist kein Mittel, um eine Überzeugung durchzusetzen. Die eingesetzte Leitung ist befugt, Autorität im Rahmen ihrer Kompetenz zum Wohl der Gemeinschaft auszuüben.

Jesus fordert uns auf, «die andere Backe hinzuhalten», «eine zweite Meile zu gehen». Man kann daraus folgern, dass der Weg von Christen nicht gegen den Widerstand geht, sondern mit dem Widerstand. Jesus spricht sogar davon, seine «Feinde» zu lieben: «Ich aber sage euch, liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.» (Matth. 5,44) Auch hier wird letztlich betont, dass der Erhalt der Gemeinschaft wichtiger ist als die gemeinsame Überzeugung. Von Richard Blackburn habe ich gelernt, dass dies gerade im Konflikt ein Verhalten gemäss Jesus ist: Nahe bleiben (ich weigere mich, auf Distanz zu gehen); wahr bleiben (ich stehe zu meiner Überzeugung, bleibe aber hörend und lernbereit); Liebe üben (ich bleibe beharrlich freundlich und diene).

Diese Haltung verneint jedoch nicht Leitung an und für sich. Sowohl das Alte als auch das Neue Testament zeigt: Leitungsmacht wird innerhalb einer kirchlichen oder staatlichen Gemeinschaft anvertraut.

Zum Schluss

Inmitten der Konfliktbearbeitung von Paulus in Römer 14 findet sich eine der knappsten Definitionen zum Reich Gottes: «Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im (Heiligen Geist.» (Vers 17). Ich meine, das ist besonders beachtenswert. Bei aller Unterschiedlichkeit sollten wir nie ausser Acht lassen, um was es primär in unseren Gemeinschaften und Kirchen geht: Nicht ums Essen und Trinken, ums Impfen oder nicht Impfen, sondern um Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist

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Erwin Weibel ist TDS-Absolvent und wohnt mit seiner Familie in Dotzigen. Er ist seit 23 Jahren Pastor (Teilzeit) in der Evangelischen Täufergemeinde Diessbach und freiberuflich tätig als Coach, Supervisor (u. a. am TDS Aarau) und Organisationsberater.