Interview

Veränderungen agil und innovativ begegnen

Christoph Schwarz

Welche Fachpersonen benötigen Kirchen und Soziale Institutionen in Zukunft? Wie verhalten sich Theologie und Soziale Arbeit zueinander? Diese und ähnliche Fragen begleiteten die Entwicklung des neuen Lehrplans für die HF TDS Aarau. Rektor Christoph Schwarz und Konrektorin Kathrin Hunn erzählen vom Prozess und den Themen, die den Konvent dabei bewegten.

Ihr habt in den letzten Monaten viel über die Ausbildung am TDS nachgedacht, diskutiert, festgehalten. Ging es dabei um die Frage, was, wie oder wozu wir am TDS Menschen ausbilden wollen?

Christoph Schwarz: «Wozu» trifft es am besten. Denn hier ist das Berufsbild im Fokus. Diese Frage leitet uns: Was sollen unsere Studierenden können?

Kathrin Hunn: Kirche und Gesellschaft ändern sich. Diesen Veränderungen wollen wir nicht nur fundiert, sondern auch agil und innovativ begegnen. Neue Nöte und Bedürfnisse verlangen eine breites Handlungsrepertoire. Dieses braucht ein gutes Fundament. Darauf aufbauend können Berufsleute ihre Arbeit vielfältig gestalten.

Zu diesem Fundament gehört z. B. die Persönlichkeitsbildung. Unsere Überzeugung: Im Berufsalltag sind die Berufsleute – Sozialdiakone, Gemeindeanimatorinnen – selber das wertvollste Gut. Daraus folgt: Gesund bleiben hat eine sehr hohe Priorität.

C: Die Mitte ist Gott. Auch diese Basis ist wesentlich für ein gelingendes Berufsleben: Gott wirken lassen, und Teil werden von diesem Wirken. Das geschieht, wenn wir auf ihn hören und erfahren, was ihn bewegt …

K: … und wenn wir Gottes Zuwendung zu den Menschen selber erfahren. Dann können wir sie weitergeben.

Den Veränderungen in Kirche und Gesellschaft wollen wir nicht nur fundiert, sondern auch agil und innovativ begegnen.
Kathrin Hunn Konrektorin TDS Aarau

Am TDS wollen wir, dass Theologie und Soziale Arbeit sich gegenseitig befruchten. Was heisst das z. B. für die sozialfachlichen Module, Kathrin?

K: Es bedeutet, dass wir in diesen Modulen die Inhalte und Beispiele oft auf ein Umfeld von Kirche oder christlichen Organisationen beziehen. Oder die Geschichte der sozialen Arbeit wird verknüpft mit der Geschichte der Diakonie – und wir erfahren etwas über die gegenseitige Befruchtung. Wir fragen, aus welchen Motiven die Menschen gehandelt haben. Dann übertragen wir die Fragestellung auf das Heute: Was heisst es, als Christin Soziale Arbeit zu machen? Haben christliche Elemente darin Platz – wie z.  B. Verkündigung? Wie nehme ich spirituelle Bedürfnisse der Menschen wahr?

Am Beispiel Altersarbeit lässt sich diese Verknüpfung gut erläutern. Der Auftrag könnte lauten: Angebote der Zugehörigkeit schaffen (Gemeindeanimation), aber auch die Frage aufnehmen, was nach dem Sterben kommt (Theologie).

Ein anderes Beispiel: Im Modul Sozialraumanalyse befassen wir uns mit den Menschen in einem Quartier. Wir fragen: Wie lässt sich hier der Zusammenhalt stärken? Wie können wir dafür sorgen, dass alle Menschen – unabhängig von ihren Ressourcen – ihren Platz finden? Dabei lassen wir uns vom Evangelium inspirieren, z. B. mit der Frage, wie Jesus den Menschen begegnet ist.

… und für die theologischen Module, Christoph?

C: Werkzeuge aus der Sozialen Arbeit sind eine Chance für die Kirche. Sie kann inspiriert werden, eine Beteiligungskirche zu werden. Gemeindeanimation leistet mit ihren Modellen und Methoden einen Beitrag, wie das geschehen kann.

In theologischen Modulen fragen wir bewusst nach Überschneidungen mit der Sozialen Arbeit. Z. B.: Wo finden wir in einem Bibeltext partizipative Ansätze? Inhaltlich oder auch sprachlich: Mit welcher (gemeindeanimatorischen) Sprache könnte eine biblische Handlung ausgedrückt werden?

Werkzeuge aus der Sozialen Arbeit sind eine Chance für die Kirche.
Christoph Schwarz Rektor TDS Aarau

Wie gelang die Balance zwischen ebendiesen «Polen»?

C: Eine Herausforderung war es, den Umfang der Module und die Verteilung in den vier Jahren der Ausbildung festzulegen. Eine andere war die Sprache: Die sozialfachliche und die theologische Sprache sind unterschiedlich. Hier fand ein Ringen um passende Begriffe statt.

Welche Begriffe zum Beispiel?

C: Der Begriff «Partizipation» soll nicht einfach ein Schlagwort sein, sondern er verkörpert ein Modell, eine Herangehensweise – hilfreich auch für die kirchliche Arbeit.

K: Oder «Soziale Kohäsion» – nicht einfach ein säkularer Begriff, sondern eine mögliche Beschreibung für die Urgemeinde in der Apostelgeschichte.

C: Die Kirche hat den Auftrag, «der Stadt Bestes zu suchen»: Also Gemeinschaft fördern in einem Sozialraum.

K: Das Abendmahl ist z. B. eine sehr inklusive Handlung: Alle sind eingeladen, alle sind gleich vor Gott. So kann ein gemeindeanimatorischer Begriff eine neue Sicht auf eine kirchlichen Handlung aufzeigen.

Wer oder was gab den Anstoss, das Curriculum, also den Lehrplan zu überarbeiten?

C: Der Anstoss kam von zwei amtlichen Stellen: SPAS und Savoir Social. Sie verlangten eine Überarbeitung aller Rahmenlehrpläne von Höheren Fachschulen mit Sozialen Ausbildungen.

Ihr seid aber noch einen Schritt weiter gegangen.

K: Wir wollten keinen «Papiertiger» produzieren, sondern nahmen den Anstoss zum Anlass, unsere Ausbildung und unser Diakonieverständnis zu klären – mit Blick auf die Zukunft. Dieser Prozess begann vor ca. zwei Jahren. Wir befragten unser Netzwerk: Kirchgemeinde, Fachstelle, Kantonalkirche, Unterrichtende, Praktizierende der Sozialen Arbeit, TDS-Absolventinnen … Leitfrage war: Was könnten wir als TDS für sie tun, ihnen bieten in den nächsten zehn Jahren? Die Antworten begleiteten unseren Prozess.

Ihr habt euch also stark am Berufsbild orientiert?

K: Ja. Zum Beispiel arbeitet ein Sozialdiakon oft allein, hat wenig Einbindung in ein Team, wenig Austausch. Vieles ist Pionierarbeit. Dies verlangt eine hohe Selbstkompetenz und die Bereitschaft zur Vertiefung und Weiterbildung, je nachdem wie die Stelle es erfordert.

C: Jedes Modul, jede Lektion ist ein Puzzleteil einer Kompetenz, die unsere Studierenden für ihren Beruf brauchen. Das Curriculum soll diese Einordnung ermöglichen und Orientierung bieten.

K: Das TDS besteht seit 60 Jahren. Am bisherigen Lehrplan ist vieles historisch gewachsen. Wir wollten den Lehrplan hinterfragen, ihn neu von der Zukunft her denken: Wie sieht das Berufsbild aus, für das wir ausbilden? Stimmt die Gewichtung – z. B. Soziale Fächer gegenüber Theologie – für dieses Berufsbild? Aus der Geschichte des TDS war z. B. der theologische Teil schon gut etabliert. Hier gab es im Bereich Gemeindeanimation Nachholbedarf.

C: Aus dem Prozess ist ein vertieftes Verständnis fürs Ganze gewachsen. Dieses Verständnis möchten wir nun auf unsere Studierenden übertragen.

Ein wertvolles Ergebnis ist auch die grafische Umsetzung des Ausbildungsverständnisses. Was gefällt euch daran besonders?

C: Ich habe soeben mit der neuen Klasse I erste Erfahrungen gemacht: Die neue Ausbildungsgrafik hilft einzuordnen. Sie erklärt die komplexe Ausbildung sehr anschaulich.

K: Sie hilft mir als Dozentin, Querbezüge zu anderen Bereichen der Ausbildung zu machen. Mir gefällt das Design: Das «Windrad» symbolisiert Dynamik, Bewegung. Wir sind mit Menschen unterwegs und müssen, sollen in Bewegung sein. Wir wollen uns bewegen lassen von Gott, der alles trägt und durchdringt.

Die Grafik ist wie eine Landkarte, die uns den Weg durch die Ausbildung weist. Sie hilft uns in der Umsetzung des Unterrichts, der Praxis, der Gemeinschaft. Sie zeigt: Unsere Ausbildung ist nicht etwas Theoretisches, sondern ganzheitlich. Kopf, Herz und Hand sind involviert. Oder TDS-mässig ausgedrückt: Ein Zusammenspiel von Theorie, Praxis und Gemeinschaft macht unsere Ausbildung aus.

Unsere Bildungslandschaft bewegt sich ständig. Wann wird die nächste Überarbeitung nötig sein?

K: Morgen … :-) Ich denke, das Konzept lässt sich selber dynamisch weiterführen bzw. übertragen auf neue Module, neue Dozierende. Wir überdenken unsere Module ja sowieso jährlich.

C: Das letzte Curriculum hatte sieben Jahre Bestand. Dieses kann sicher zehn Jahre als Grundlage dienen. Und ist auch offen für grössere Veränderungen …

K: … z. B. den Fachkräftemangel.

Welches sind eure nächsten Aufgaben, Visionen, Schritte?

C: Ich freue mich sehr auf die Umsetzung. Es macht Freude, im Unterricht mit dem neuen Konzept zu arbeiten. Es geht nun auch darum, alle Dozierenden mit dem neuen Konzept vertraut zu machen.

K: Durch den Prozess hat sich unser Profil geschärft. Unsere Spezialität ist die Verknüpfung von sozialfachlichem Arbeiten mit Theologie und Diakonie. Damit wollen wir neue Angebote schaffen: Weiterbildungen für Berufsleute, Angebote für Kirchgemeiden und Institutionen … Wir erhoffen uns auch eine Stärkung des Berufsbildes. Wir wünschen uns, dass Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen den Mehrwert unserer breiten und verknüpfenden Ausbildung sehen.

C: In den nächsten zehn Jahren werden in der Deutschschweiz 250 Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone pensioniert. Wie finden Kirchen Ersatz dafür? Wie gehen sie um mit den knapper werdenden Ressourcen? Wir wollen hier eine Aufgabe wahrnehmen.

Als TDS-Leitung seid ihr stark gefordert. Wie schafft ihr es, Unterricht, Leitungsaufgaben, konzeptuelle Aufgaben unter einen Hut zu bringen – und daneben die Work-Life-Balance zu halten?

K: Es ist eine Herausforderung: Die TDS-Themen und das Familienleben sind intensiv, können aber auch gegenseitig inspirieren. Oft habe ich im Kopf TDS-Themen mit nach Hause genommen und sie weiter bewegt. Ich will bewusst immer wieder die Mitte suchen: Mich auf Gott ausrichten, der sich mir zuwendet, und sowohl mein berufliches als auch privates Leben durchdringt.

C: Unser Team hat sich auf eine gute Art entwickelt. Man hat intensiv diskutiert und das Projekt aktiv mitgetragen.

K: Wir erhielten in allen fachlichen Auseinandersetzungen die gegenseitige Wertschätzung aufrecht. Das zeichnet die TDS-Kultur aus – und ist ein Geschenk! 

Die Fragen stellte Matthias Ackermann.