Stetig, initiativ und dynamisch
Beständigkeit im Berufsleben von Andreas Wiedmer
Nach dem TDS arbeitete Andreas Wiedmer zuerst acht Jahre in der Evangelischen Kirche Kreuzlingen. Vor genau 20 Jahren wechselte er in die Reformierte Kirchgemeinde Jegenstorf-Urtenen, wo er heute immer noch angestellt ist, wenn auch in anderen Bereichen als am Anfang. Er spricht über den Wert des Bleibens und über gesunde und ungesunde Routine.
Andreas, hättest du vor 20 Jahren gedacht, dass du so lange in der Kirchgemeinde Jegenstorf arbeiten würdest?
Nein. Aber dass ich länger bleiben würde, war mit dem Umzug mit meiner Familie von der Ostschweiz in den Kanton Bern schon klar. Zudem hatte ich eine klare Berufung für die Stelle in Jegenstorf. Auf mehrfache und vielseitige Weise wurde uns dieser Weg als ganze Familie im Entscheidungsprozess bestätigt.
Für mich war auch klar: Wenn ich zusage, dann bleibe ich sieben bis zehn Jahre – Kontinuität ist in der Jugendarbeit wichtig und unabdingbar.
Was sind die Hauptgründe, die dich zum Bleiben bewogen haben?
Erstens: Wir sind als Team unterwegs. Das ist für mich ein wesentlicher Punkt. Aktuell sind wir ein 7er-Team bestehend aus den beiden Pfarrämtern und den Bereichen der Sozialdiakonie. Neben dem Austausch über unsere tägliche Arbeit teilen wir auch Privates und beten mit- und füreinander.
Zweitens: Wir legen Wert auf ein gutes und konstruktives Miteinander zwischen den verschiedenen Teams: Katechetinnen, Verwaltung, Hauswarte und Sigristen. Die enge Verbindung zu Kirchenbehörde und Ressortverantwortlichen ist wichtig. Als Teamleiter lege ich Wert auf dieses gemeinsame und konstruktive Unterwegssein. Meine verbindende und lösungsorientierte Art hilft mir dabei.
Drittens: Ich habe eine grosse Freiheit in der Gestaltung meiner Arbeitsbereiche. Meinen Stellenbeschrieb konnte ich immer wieder anpassen. Ich kann gemäss meinen Gaben und Leidenschaften arbeiten. Diese Offenheit und das damit entgegenbrachte Vertrauen zeichnet unsere Kirchgemeinde aus. Ich empfinde dies als Privileg und bin sehr dankbar dafür.
Viertens: Die biblisch-theologische Grundlage. Jesus Christus ist gemeinsames Zentrum. Er ist der Eckstein des Gemeindelebens und unserer Arbeit. Das gilt für uns als Team und auch für die Kirchenbehörde.
Wie oft hast du dich in dieser Zeit bewusst gegen einen Stellenwechsel entscheiden wollen oder müssen?
Müssen nie – ich habe mich aber von Zeit zu Zeit dem Prozess einer Neuausrichtung gestellt und mich anderswo beworben. Die Bestätigungen zum Wechsel blieben jedoch aus.
Du hast also einen Stellenwechsel erwogen, obwohl es keinen äusseren Anlass dazu gab?
Ja und nein. Ich mache grundsätzlich rund alle sieben Jahre eine Standortbestimmung, was die Arbeitsstelle anbelangt – unabhängig von den äusseren Umständen. So kam auch der Wechsel nach Jegenstorf zustande.
Im Jahr 2011 war es wieder so weit, und ich fragte mich, ob es Zeit wäre, die Jugendarbeit abzugeben. In dieser Zeit durchliefen wir in der Gemeinde eine Krise. Da spürte ich: Jetzt zu kündigen wäre ein «Davonlaufen» – das wollte ich nicht. Verschiedene Personen in meinem Umfeld haben mich ermutigt: «Dich braucht es jetzt, übernimm Verantwortung in der Leitung!» So übernahm ich die Teamleitung. Ich habe bewusst eine meiner Stärken eingebracht, die es in dieser Situation brauchte: Menschen (wieder) zu verbinden, das Gemeinsame hochzuheben und miteinander weiterzugehen. Die Gemeinschaft musste neu aufgebaut, neu gekittet werden. Ich behielt die Hauptleitung der Jugendarbeit, übernahm daneben aber immer mehr Aufgaben in der Gemeindearbeit. So bin ich mehr und mehr in die Leiterschaft und in Führungsaufgaben hineingewachsen.
«Oft ist es einfacher, in dem zu verharren, was man kennt. Dann besteht jedoch die Gefahr, vom Gestalter zum Verwalter zu werden. Und das entspricht nicht meinem Arbeitsverständnis.»
Dann nach weiteren drei Jahren – insgesamt 10 in der Jugendarbeit – machte sich allmählich eine Müdigkeit bemerkbar. Routine schlich sich ein. Ich wusste: Dieser Zustand darf nicht zu lange dauern. Kommen dann noch zusätzlich schwierige und herausfordernde Umstände dazu – und die kommen früher oder später –, dann kann diese Situation zu Frustration oder gar zu einem Burn-out führen. Dies war mir bewusst. Ich blieb meinem Grundsatz treu, die Gemeinde nie aus Frustration zu verlassen, proaktiv darauf zu agieren und vernünftig zu entscheiden.
Ich konnte dann eine Stelle in der Erwachsenenarbeit übernehmen und im Alterssegment der 25- bis 60-Jährigen arbeiten. So bin ich zusätzlich zur Leitungsaufgabe mehr und mehr – im Bild gesprochen – in die Rolle eines Gärtners hineingewachsen. Ich verschaffe mir Überblick und schaue hin: Wo braucht es Dünger, wo liegt etwas brach oder droht, abzusterben? Dann wollen wir das gemeinsam tragen!
Ich habe also meinen Platz immer wieder entwickeln und verändern können.
Wie gelingt ein Berufsleben ohne auszubrennen, in Routine zu verfallen oder frustriert aufzuhören? Was sind hier deine Erfahrungen?
Ich ziehe mich jedes Jahr ein- bis zweimal für Stilletage zurück. Ich bin dann jeweils drei Nächte weg und nehme mir Zeit für die Stille vor Gott und um auf ihn zu hören. Ich reflektiere meine Arbeit: Wie bin ich dran, was steht an? Was erfüllt mich, was lähmt mich? Das hilft mir, Schwerpunkte zu setzen für die nächsten Monate.
Intervision als Teil der Arbeit. Ich treffe mich mit einem Freund, der im selben beruflichen Umfeld arbeitet. Wir verstehen einander, können einander auferbauen. Wir fordern uns gegenseitig heraus mit Fragen wie: «Was ist aktuell positiv, was läuft gut in deinem Leben, bei der Arbeit?» Und, auch wichtig: Wir klagen einander, was uns Mühe macht, welche Probleme uns herausfordern und bringen dies gemeinsam vor Gott.
Mentoring. Die Treffen sind geprägt durch offenen Austausch. Ich profitiere von den reichen Erfahrungen meines Mentors, seiner Weisheit, seiner tiefen Gottesbeziehung und – wohl das Wichtigste – seinen Gebeten für mich und meine Arbeit. Er ist mir zu einem geistlichen Vater geworden.
Neue Perspektiven suchen, wenn sie verloren gegangen sind. Das kann innerhalb der bestehenden Aufgabe sein, aber doch mit einer neuen Einstellung: «Ich nehme meinen Platz neu ein!» Es kann aber auch sein, dass neue Aufgabenbereiche dazu kommen und andere aufgehoben oder anders verteilt werden.
Personen von der Sache trennen. Akzeptieren, dass wir unterschiedlich ticken. Aber dann über die Sache reden und gemeinsam weitergehen.
Mich selbst nicht so wichtig nehmen und mich in Demut üben. Das gelingt mir mit zunehmendem Alter immer besser.
Mich weiterbilden – nicht nur fachlich, sondern auch in Selbst- und Sozialkompetenz! Ich lese Bücher über Leitungs- und Führungsfragen wie z. B. «Die Kunst sich selbst zu führen» von Thomas Härry. Sie dienen mir als Kompass für meine herausfordernde und oft komplexe Tätigkeit.
Eines der wichtigsten Elemente für mich ist der Austausch mit meiner Frau. Sie kennt mich wie niemand sonst und gibt mir ehrliche Feedbacks. Sie unterstützt mich, hat immer ein offenes Ohr für mich und trägt meine Arbeit seit jeher mit. Dieses gemeinsame Unterwegssein schätze ich sehr und es ist von unfassbarem Wert!
Was spricht generell für ein Ausharren in einer (sozialdiakonischen) Anstellung?
Wenn ich ausharren muss, dann ist es eigentlich schon zu spät. Da müsste ich vorher gehen. Aber ich will aushalten. Nicht sofort den Bettel hinwerfen. Dies stärkt die eigene Resilienz und die der Gemeinde. Auch als Gemeinden erleben wir immer wieder Zeiten, in denen wir aushalten müssen: «Das stehen wir gemeinsam durch!»
Die Gemeinde lebt von Beziehungen. Dieses Netzwerk aufzubauen, braucht Zeit. Vertrauen muss wachsen. Jetzt, nach zwanzig Jahren, kann ich unter anderem auch Früchte dieser Beständigkeit ernten. Eine Frucht ist z. B., dass wir mit 25 Leuten den Willow-Creek-Kongress besuchten. Mit dabei waren nebst Angestellten auch viele freiwillig Engagierte, mit denen ich seit vielen Jahren unterwegs sein darf. Das ist für mich ein Privileg.
Was können Umstände sein, die eher für einen Stellenwechsel sprechen?
Wenn Sinnhaftigkeit, Leidenschaft und Motivation verloren gehen. Wenn sich Müdigkeit einschleicht und über längere Zeit bleibt. Wenn du den «Laden» verwaltest und nicht mehr gestaltest. Du fühlst dich überlastet, wirst dünnhäutiger, reizbarer. Unzufriedenheit breitet sich aus.
So kann ich die Tage an einer Hand abzählen, an denen ich nicht gern arbeiten ging. Diese Tatsache hat auch mit Berufung zu tun! Es gibt keinen schöneren Beruf für mich, der mich so erfüllt. Im Laufe der Jahre durfte ich immer mehr entdecken, wer ich bin, was mich ausmacht und was ich kann, was ich dazulernen kann und wo meine Grenzen sind. Ich darf mit Gott den Weg gehen. Er «ruft» mich, den Platz einzunehmen, den er für mich bereithält. So erlebe ich seinen Ruf – meine Berufung. Dafür bin ich enorm dankbar.
Und warum bleiben viele in ihrem Job, obwohl sie überlastet sind?
Die Frage ist zunächst: Warum sind sie überlastet? Die weiterführende Frage ist dann, wozu sie sich überlasten. Dahinter steckt die Frage des Antriebs, der Motivation, der fehlenden oder krank machenden, zur Überlastung führenden Ziele – und der Umgang damit.
Und ja, dann ist es wichtig genau hinzuschauen und vielleicht zu erkennen, dass der jetzige Platz der falsche ist oder sich die nötige Veränderung nicht eingestellt hat. Dass ich mich nicht so entfalten kann, wie ich mir erhofft habe. Dann ist der Punkt gekommen, zu gehen und nicht länger zu warten.
Sich diesen, oftmals auch unangenehmen, sogar schmerzlichen Motiven zu stellen, braucht Mut und verlangt Selbstverantwortung. Und oft ist es einfacher, in dem zu verharren, was man kennt. Dann besteht jedoch die Gefahr, vom Gestalter zum Verwalter zu werden. Und das entspricht nicht meinem Arbeitsverständnis.
Oder man geht dann frustriert oder gar im Konflikt und unversöhnt aus einer – vielleicht früher sogar florierenden – Arbeit. Leider geschieht das immer wieder. Dies macht mich traurig und müsste oft nicht sein.
Man kann den Bettel zu schnell hinwerfen – man kann aber auch zu lange bleiben! Davon bin ich überzeugt. Es gibt den Punkt, an dem es neuen Wind braucht – für die Sache, aber auch mir und meinem Umfeld zuliebe.
Man kann den Bettel zu schnell hinwerfen – man kann aber auch zu lange bleiben. Es gibt den Punkt, an dem es neuen Wind braucht – für die Sache, aber auch mir und meinem Umfeld zuliebe.
Ist Beständigkeit auch eine Charaktereigenschaft? Bist du z. B. auch in anderen Bereichen treu und ausdauernd?
Stetig und initiativ sind zwei Eigenschaften von mir. Insofern ja, ich bin beständig. Aber eben auch initiativ: Ich will anpacken, will prägen und Neues umsetzen.
Letzteres ist mir während der Corona-Zeit abhandengekommen. Ich, der «Macher-Typ», konnte nicht mehr machen. Ich erlebte eine Sinnkrise. Ich hatte kaum mehr Perspektiven. Mir half dann eine Auszeit. Ich half während zwei Wochen tatkräftig auf einer Alp mit, führte Gespräche mit meinem Mentor, reflektierte und ging vermehrt in die Stille. Auch die unterstützende Begleitung und die Gebete eines Ehepaars dienten zur Klärung unseres weiteren Weges.
Genau in diese Zeit kam dann auch die Anfrage des TDS Aarau, als Studien- und Praxisbegleiter mitzuarbeiten. Das war, zusätzlich zu anderen sich neu eröffnenden Perspektiven, eine wichtige Aufgabe, die mich motivierte, sie anzugehen. Ich sagte sofort zu.
Ich bin ein Ermutiger, lebe einen hoffnungsvollen Realismus. Ich sehe das Glas halb voll, nicht halb leer. Diese Eigenschaft ist teils vererbt, hat mit meiner Prägung zu tun und wie ich sie bewerte. Einen grossen Teil kann ich jedoch dazulernen. Die Resilienz und somit auch Beständigkeit können trainiert werden. Zurzeit bilde ich mich in diesem Bereich weiter zum Resilienz-Coach – um mich selbst noch besser führen und andere hilfreich begleiten zu können.
Du begleitest die TDS-Studierenden in ihrer Anstellung. Was gibst du ihnen mit?
Ich finde es super, dass die Persönlichkeitsentwicklung am TDS einen so hohen Stellenwert hat; das betone ich auch den Studierenden gegenüber: Nutzt diese Möglichkeit! Entdeckt und reflektiert eure Persönlichkeit, eure Resilienz, eure Motivation, eure Gottesbeziehung. Fragt nach eurer Berufung – und ihr werdet sie entdecken. Ihr habt wunderbare und viele Menschen um euch, die euch darin fördern, lehren und anleiten. Entdeckt eure Berufung und fragt auch Gott nach eurem Platz.
Und ich erzähle den Studierenden begeistert von meinem Berufsalltag. Es ist eines der schönsten Berufsfelder, die es gibt. Wir dürfen mit Menschen unterwegs sein, sie begleiten, unterstützen, prägen. Und dabei Gottes Liebe weitergeben, durch Wort und Tat. Sein Reich baut ER – und wir dürfen Teil davon sein. Wie wunderbar ist das!
Das Gespräch führte Matthias Ackermann