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Sozialdiakonie gibt Hoffnung!

Diverse Diakonie-Leute

Visionen einer diakonischen Kirche mit Zukunft
Sie verantworten das Ressort Diakonie in kantonalen oder städtischen Gremien oder Fachstellen. Sie waren oder sind selbst in der Diakonie oder im Pfarramt tätig. Karin Grösser, Beat Maurer, Paul Wellauer-Weber und Beatrice Binder schreiben je ihr Plädoyer für eine hoffnungsvolle Zukunft einer diakonischen Kirche. Dabei wird auch deutlich, welch tragende Rolle unserer HF TDS Aarau in Gegenwart und Zukunft zukommt.

Diakonie baut an der Zukunft

In meiner Berufszeit als Diakonin bin ich von unterschiedlichen Menschen gefragt worden, was Diakonie sei und welches ihr USP (unique selling point) sei. Im «Handbuch Urbane Diakonie» wird Diakonie kurz und trocken beschrieben als «das helfende und solidarische Handeln in christlicher Perspektive, mit dem Ziel der Ermöglichung von Teilhabe und Gemeinschaft» (Handbuch urbane Diakonie, Hrsg. Ch. Sigrist. Theol. Fakultät Universität Bern, 2016).

Diakonie gehört folglich unabdingbar zum Kirche-Sein. Ohne Diakonie gibt es keine christliche Kirche. Aber gleichwertig gehören die Verkündigung, das Feiern der Gottesdienste und die vielen Möglichkeiten, Gemeinschaft zu erleben, dazu. Denn Kirche betrifft den ganzen Menschen in all seinen Lebensvollzügen. Dies unterscheidet Diakonie von staatlicher sozialer Arbeit.

Der Stellenwert der Kirche als Institution hat sich in unserer Gesellschaft verändert. Ein grosser Teil der Bevölkerung ist konfessionslos oder einer anderen Religion zugehörig. Die Kirche und somit die Diakonie wird als ein Player unter vielen weiteren staatlichen und privaten Institutionen bzw. sozialen Organisationen wahrgenommen.

Bei meinem Berufsstart als Diakonin wurde ich bei der Kontaktaufnahme mit sozialen Institutionen immer wieder gefragt, was denn die Kirche von ihnen wolle? Inzwischen ist es selbstverständlich, dass wir Diakoninnen als willkommene Kooperationspartnerinnen wahrgenommen werden. Wir ergänzen in wesentlichen Teilen die staatliche Sozialarbeit und arbeiten zum Gemeinwohl unserer Gesellschaft in Stadtquartieren und Dörfern. Wir beteiligen uns am grösseren Ganzen und schaffen mit unserer Arbeit einen Mehrwert an Lebensqualität. Wir verschenken Zeit, nehmen die Menschen ernst in ihren Fragen und Nöten und lassen sie teilhaben an der Gemeinschaft. Es gehört auch zum kirchlichen Wächteramt, dass wir auf gesellschaftliche Missstände hinweisen, die wir mittels unserer diakonischen Arbeit wahrnehmen. Wir sind gefordert, uns auf kommunaler Ebene kreativ einzubringen, um diesen Missständen entgegenzuwirken.

Das neue Schlagwort heisst «Beteiligung» in allen Facetten der Partizipationspyramide. Unsere Herausforderung ist es, Verantwortungen an fähige und engagierte Freiwillige zu delegieren.
Beatrice Binder Diakonin, Leiterin Berufskonvent Diakonie Zürich

Die Professionalisierung der kirchlichen Berufe hat mit sich gebracht, dass Menschen sich weniger engagieren, aber mehr konsumieren, was angeboten wird. Langjährige Engagements von Freiwilligen nehmen kontinuierlich ab. Das neue Schlagwort, um diesem Schwund entgegenzuwirken, heisst «Beteiligung» in allen Facetten der Partizipationspyramide. Unsere Herausforderung ist es, Verantwortungen an fähige und engagierte Freiwillige zu delegieren. Können wir uns vorstellen, freiwilliges Engagement so ernst zu nehmen, dass wir die Verantwortung mit Engagierten teilen? Lassen wir sie Ideen einbringen, umsetzen und folglich auch Projekte gestalten, vorausgesetzt, dass sie die nötige Einsatzfreude mitbringen?

Als Diakoninnen werden wir in Zukunft noch mehr zu Ermöglicherinnen, die Menschen befähigen, die sich einsetzen wollen. Vernetzen, koordinieren und coachen von Freiwilligen und Teams werden zu zentralen Kompetenzen, die wir uns aneignen müssen. Ich freue mich, dass das TDS zu den Ausbildungsstätten gehört, die diese Kompetenzen fördern.

Meine Berufszeit ist fast zu Ende. Auch heute würde ich diesen Beruf mit Freude nochmals wählen, weil Diakonie konstitutiv für die Kirche ist, sich laufend entwickelt und wir kompetent und lebensbejahend mit Menschen unterwegs sind. Unsere Arbeit verweist über unser Leben in dieser Welt auf den einen lebendigen Gott, der mit uns unterwegs ist und der alles zum Guten bringen wird, wie er verheissen hat. Toll, dass wir mit unserer Arbeit an dieser Zukunft mitbauen dürfen!

Beatrice Binder ist Diakonin und arbeitet bis Ende Oktober in der Geschäftsstelle der Kirchgemeinde Zürich im Bereich Gemeindeleben. Sie ist zuständig für Diakonie und Projekte in der Stadt. Zudem ist sie Leiterin des Berufskonvents Diakonie der Kirchgemeinde Zürich.

Der Leib Christi lebt dank inter­professioneller Zusammenarbeit

Seit meiner Jugend fasziniert mich das Bild der Gemeinde als «Leib Christi», an dem jeder Körperteil eine wichtige Bestimmung und Aufgabe hat. In der Jugendgruppe, im Sonntagsschulteam und in Lagern erlebte ich es genauso: Jede und jeder leistet einen wichtigen Beitrag, gemeinsam entsteht ein lebendiger Organismus.

Nach dem Theologiestudium wollte ich an einem Ort im Reich Gottes mitwirken, in dem die Weitergabe des Evangeliums «in Wort und Tat» ganzheitlich gelebt wurde, so wie ich es im Ordinationsversprechen gelobt hatte. So war ich als «Seel- und Leibsorger» in den Sozialwerken von Pfarrer Ernst Sieber tätig. Hier lernte ich einige TDS-Absolventinnen und -Praktikanten kennen, die diese Verbindung von «Evangelium weitergeben in Wort und Tat» meist sehr natürlich und vorbildlich lebten.

Paul Wellauer leitet eine Ordinationsfeier in der Evang. Kirche Diessenhofen. Mit dabei drei Sozialdiakoninnen und ein Sozialdiakon.

In den beiden Kirchgemeinden, in denen ich seither tätig war und bin, freue ich mich darüber, wie Pfarrpersonen, sozialdiakonische Mitarbeitende und andere engagierte Menschen gabenorientiert ihre je besonderen Aufgaben am «Leib Christi» anpacken und so zu einer lebendigen und vielfältigen Gemeinde beitragen. In der Thurgauer Landeskirche prägt und belebt eine schöne Zahl von TDS-Absolventinnen und -Absolventen das kirchliche Leben in vielen Gemeinden: Sie erteilen Religionsunterricht, organisieren Kinderwochen und Jugendlager, leiten die Jugendarbeit, gestalten Andachten in Altersheimen, wirken im Konfirmandenunterricht und in Glaubenskursen mit und vieles mehr. Nach zwei Jahren Berufstätigkeit können sie sich mit einer Empfehlung der örtlichen Kirchenvorsteherschaft und des kantonalen Kirchenrates ordinieren lassen und danach auch Sonntagsgottesdienste, Hochzeiten und Beerdigungen gestalten. Und nach einem aktuellen Beschluss der Synode können sie neu auch die Hauptverantwortung für den Konfirmandenunterricht übernehmen, wenn die örtliche Kirchenvorsteherschaft dies wünscht.

Eine grosse Hoffnung und Erwartung ruht auf den TDS-Absolventinnen und -Absolventen: Ihr wertvoller und beherzter Beitrag zum Leib Christi im Thurgau ist unverzichtbar.
Paul Wellauer-Weber Pfarrer, Kirchenratsmitglied Thurgau

In den kommenden zehn Jahren wird rund jede zweite Thurgauer Pfarrperson pensioniert, es werden jährlich aber nur wenige neue Pfarrpersonen ausgebildet. Die Thurgauer Landeskirche übernimmt die Hälfte der Lohnkosten von Sozialdiakonen und Sozialdiakoninnen in Ausbildung am TDS Aarau. Das hat einige Gemeinden motiviert, Ausbildungsstellen einzurichten. Es lassen sich deutlich mehr junge Menschen zu Sozialdiakoninnen und Sozialdiakonen ausbilden als zu Pfarrpersonen. Eine grosse Hoffnung und Erwartung ruht auf den TDS-Absolventinnen: Ihr wertvoller und beherzter Beitrag zum Leib Christi im Thurgau ist unverzichtbar. In der Zukunft wird die interprofessionelle Zusammenarbeit mit Pfarrpersonen, Katecheten, Kirchenmusikerinnen und auch die übergemeindliche Zusammenarbeit an Bedeutung zunehmen: Nur so kann das Gemeindeleben «von jung bis alt» gestaltet werden.

Mein Wunsch an die TDS-Studierenden: Sucht und pflegt den konstruktiv-kritischen Kontakt mit den anderen kirchlichen Berufsgruppen, wirkt weiterhin mit Leidenschaft und Kompetenz am Leib Christi mit!

Paul Wellauer-Weber ist Mitglied im Kirchenrat der Evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau und Gemeindepfarrer in Bischofszell-Hauptwil.

Eine Kirche ohne Diakonie
ist keine Kirche

Kirchenaustritte und leere Kirchenbänke während des Sonntagsgottesdienstes werden heute vermehrt wahrgenommen und zeichnen das Bild einer Kirche, die an Bedeutung verliert. Dabei geht vergessen, dass Kirche mehr ist als der Gottesdienst am Sonntagmorgen: In Kirchgemeinden treffen sich Menschen, pflegen das Miteinander und unterstützen sich gegenseitig.

Soziale und gemeinschaftliche Angebote bleiben auch in einer Zeit der Individualisierung unverzichtbar. Gerade hier hat die Kirche viel zu bieten. Das diakonische Handeln gehört seit jeher zu ihrer DNA – viele soziale Initiativen sind unter dem Dach der Kirche entstanden.

Orte, an denen sich Menschen begegnen, helfen gegen Vereinsamung und schaffen Raum, um Not zu erkennen und sich zu unterstützen. Solche Angebote entstehen einerseits durch das Engagement von Freiwilligen, die sich gerne sozial engagieren. Andererseits werden sie getragen von professionellem Know-How der Sozialdiakonie.

Die Sozialdiakonie dient den Menschen und trägt entscheidend zur positiven Wahrnehmung der Kirche bei.
Beat Maurer Sozialdiakon, Kirchenratsmitglied Aargau, Präsident von Diakonie Schweiz

Die Diakonie steht in der Herausforderung, sich immer wieder neu erfinden zu müssen, um auf die sich ändernde Gesellschaft zu reagieren. Mithilfe von gemeindeanimatorischen Werkzeugen wie z. B. der Sozialraumanalyse gelingt es Sozialdiakoninnen und Sozialdiakonen, die Bedürfnisse ihrer Zeit und ihres Sozialraumes sichtbar zu machen und darauf zu reagieren. Die Sozialdiakonie dient den Menschen und trägt entscheidend zur positiven Wahrnehmung der Kirche bei.

Beat Maurer ist TDS-Absolvent und arbeitet als Sozialdiakon in der Ref. Kirche Zofingen. Er ist Mitglied des Kirchenrats der Reformierten Kirche Aargau und Präsident von Diakonie Schweiz.

Nicht Methode und Programm, sondern Herzenshaltung

«Die Kirche der Zukunft wird diakonisch sein – und gut ausgebildete Diakoninnen und Diakone sind wichtige Gestaltungspersonen.» Mit diesem Zitat aus der EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 2023 starte ich aus diakonischer Überzeugung in ein hoffnungsvolles Plädoyer für eine zukunftsrelevante Sozialdiakonie in unseren Kirchgemeinden und diakonischen Werken.

Diakonie ist das Gesicht der Kirche. Für viele Kirchenmitglieder liegt die Motivation zur Mitgliedschaft im diakonischen Handeln der Kirche: «Ich bleibe Kirchenmitglied, weil die Kirche etwas für Arme, Kranke und Bedürftige tut und sich für Solidarität und die Zukunft der Menschen einsetzt.»

Diakonie hat Zukunft, wenn Sozialdiakone multiprofessionelle und interdisziplinäre Teams mitgestalten und mitprägen. Sie sollen ihre in der Ausbildung (am TDS) erlernten spezifischen sozialfachlichen Kompetenzen und ihre theologischen Haltungs- und Handlungskompetenzen einbringen.

Diakonie hat Zukunft, wenn Sozialdiakoninnen mit einer geschulten Wahrnehmung den Sozialraum erfassen und analysieren, z. B. mit Hilfe einer Sozialraumanalyse. Und dann mit Menschen vor Ort Ideen umsetzen, die Zugehörigkeit und Teilhabe, Wohlergehen und Gesundheit, Existenz und Arbeit ermöglichen (siehe unser Rahmenkonzept Diakonie).

Diakonie hat Zukunft, wenn die Sozialdiakone sich bewusst sind, dass sie keine Einzelhelden sind. Teamarbeit und Zusammenarbeit mit Freiwilligen ist der Schlüssel zur Gemeindeentwicklung. Sozialdiakoninnen wollen Partizipation ermöglichen, Betroffene zu Beteiligten machen und «die Heiligen zurüsten zum Werk des Dienstes» (Eph 4,12).

Diakonie ist keine Methode und kein Programm. Diakonie ist eine Haltung, eine Herzenshaltung. Ich lebe Nächstenliebe und Barmherzigkeit, weil ich Gottes Liebe und Barmherzigkeit erlebt habe.
Karin Grösser Fachstelle Diakonie der reformierten Landeskirche Aargau

Diakonie ist keine Methode und kein Programm. Diakonie ist eine Haltung, eine Herzenshaltung. Ich lebe Nächstenliebe und Barmherzigkeit, weil ich Gottes Liebe und Barmherzigkeit erlebt habe. Das ist die entscheidende Grundlage zur Befähigung und zur Motivation für den diakonischen Dienst in Kirche und Gesellschaft.

«Eine zeitgemässe, zukunftsorientierte Kirche besinnt sich ihrer geistlichen Grundlagen, ist sensibel für die sozialen, politischen und kulturellen Herausforderungen der Zeit und bringt sich aktiv ins Gemeinwesen ein.» Mit diesem Fazit aus der EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung blicke ich hoffnungsvoll in eine diakonische Zukunft.

Karin Grösser ist TDS-Absolventin und ehemalige TDS-Dozentin. Sie arbeitet in der Fachstelle Diakonie der reformierten Landeskirche Aargau.

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Siehe auch: Diakonie sichtbar machen (Video auf Youtube)