
Sicherheit und Reibung

Ein Zuhause gestalten für psychisch starke Kinder
Carmen Adornetto hat von 2007 bis 2023 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Basel gearbeitet. Für sie ist ein sicheres Zuhause wesentlich für starke Kinder.
Ich nehme ein Paradox wahr: Einerseits haben Kinder heute im Vergleich zu früher viel mehr Möglichkeiten. Sie haben via Internet Zugriff auf die ganze Welt und werden mit Informationen und Eindrücken überflutet. Sie haben materiellen Überfluss, vieles ist selbstverständlich und wird nicht hinterfragt. Andererseits fehlt es ihnen oft an Orientierung. Mangelnde Strukturen, wenig Klarheit und fehlende Wertevermittlung führen zu Verunsicherungen. Existenzielle Ängste und depressive Symptome bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu, wie etwa innere Leere, Niedergeschlagenheit, Lustlosigkeit, Gleichgültigkeit, Desinteresse und soziale Isolation, aber auch die Flucht in eine Sucht (Spielsucht, Esssucht, Alkohol, Drogen).
Meine therapeutische Arbeit zielt darauf ab, Orientierung zurückzugeben. Stichworte dazu sind etwa: Struktur und Klarheit schaffen, Selbstvertrauen stärken, Ressourcen fördern. Das Kind lernt, das eigene Verhalten zu reflektieren, Gefühle wahrzunehmen und soziale Situationen zu verstehen.
Sicherer Hafen und Ort der Reibung
Was das Umfeld der Kinder betrifft, richtet sich mein Appell primär an die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten – die nächsten und wichtigsten Bezugspersonen. Alle Eltern wünschen sich das Beste für ihr Kind. Die Frage ist nur: Was ist das Beste? Manche setzen auf eine materielle (Über-)Versorgung und möchten ihrem Kind alles bieten und ermöglichen. Das ist aus meiner Sicht der falsche Fokus. Was Kinder wirklich brauchen, ist ein Zuhause, das zwei Eigenschaften vereint:
1. Ein Zuhause als sicherer Hafen
Das Zuhause sollte ein Ort der emotionalen Geborgenheit sein. Eltern nehmen die Bedürfnisse ihres Kindes wahr, haben ein offenes Ohr für seine Anliegen, Sorgen, Wünsche und Visionen. Sie nehmen sich Zeit für die Themen, die ihr Kind beschäftigen, und fördern Gespräche. Sie ersparen ihm nicht Schwierigkeiten oder vermeiden unangenehme Situationen, sondern begleiten das Kind darin – sei es durch Trost oder Ermutigung. Auch unangenehme Gefühle, wie Traurigkeit oder Frustration, sollen zugelassen und mit dem Kind ausgehalten werden. Das Meistern von Herausforderungen macht die Kinder stark und selbstbewusst. Ich wünsche mir, dass die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten da sind für ihr Kind und Zeit haben.
Auch unangenehme Gefühle, wie Traurigkeit oder Frustration, sollen zugelassen und mit dem Kind ausgehalten werden.
2. Ein Zuhause als Ort der Reibung
Aufgabe der Eltern ist es, sich mit ihrem Kind auseinanderzusetzen: Diskussionen führen, Grenzen setzen. Das ist zwar anstrengend und kräftezehrend, doch wichtig für die Orientierung des Kindes. Kinder suchen Grenzen, sie wollen das Gegenüber spüren. Das gibt ihnen Halt und Sicherheit. Dazu gehört auch das Vermitteln von Werten, die den Eltern wichtig sind, z. B. Ehrlichkeit oder gegenseitiges Zuhören.
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Carmen Adornetto ist Psychologin und Therapeutin und unterrichtet Psychologie an der TDS Aarau. Mit ihrer Praxis in Basel unter dem Namen "Adornetto’s Familienfokus" möchte sie gemeinsam mit Familien Wege finden, den Zusammenhalt zu stärken und gelassener durch den Familienalltag zu gehen. Ihr Angebot besteht aus individueller Beratung und professioneller Begleitung von Kindern, Familien und Eltern zu Themen wie Erziehung, Alltagsbewältigung oder Konfliktlösung.