Referat | Sozialdiakonie, Soziale Arbeit, Gemeindeanimation

Schöpfer und Gastgeber aller Menschen

Dr. Matthias Wenk

«Schöpfungsgeschichte, Abendmahl und Pfingstbericht haben das Potential, der Angst rund ums Thema Migration zu begegnen.» Matthias Wenk, Doktor der Theologie und bis vor Kurzem Dozent am TDS Aarau, eröffnete mit seinem Referat die Projekttage Migration am TDS Aarau.

Das Thema Migration löst rundum Ängste aus, und das sowohl bei den Menschen, die oftmals in eine unsichere Zukunft auswandern (müssen), wie auch bei den Menschen, die im Einreiseland wohnen. Deshalb habe ich mich entschieden, meine theologische Perspektive nicht wie oft üblich bei den alttestamentlichen Gesetzen oder biblischen Geschichten rund um Migranten anzusetzen, sondern an einem ganz anderen Ort. Ich möchte auch nicht von der Frage ausgehen, was wir als Christen im Umgang mit Migranten tun müssten (Pflichtethik), sondern ich möchte das Thema von den Ressourcen her angehen, welche wir als Kirche haben, um einem der grundlegenden Probleme rund um die Migration zu begegnen: der Angst – und dies, obwohl das Fremde oft auch fasziniert. Diese Angst im Zusammenhang mit Migration hat in der Regel zwei Dimensionen:

  1. Eine Form der gefühlten Bedrohung rund um Migranten ist die Angst, es könnte aufgrund der Migrationsströme zu wenig Ressourcen für uns haben, sprich, die Angst, zu kurz zu kommen und aufgrund der vielen Zuwanderer Mangel leiden zu müssen. In diese Kategorie fallen die Ängste rund um Arbeits- oder Kitaplätze, mangelnden Wohnraum oder übermässige Erhöhung der Sozialleistungen, welche dann von den Bürgern getragen werden müssen.

  2. Dann gibt es noch eine andere Dimension: Fremdheit ist die Erfahrung der Andersartigkeit des Gegenübers, und damit verbunden die Frage nach der eigenen Identität. In der Begegnung mit der Fremdheit treffen wir zudem immer auch auf ihre Schwester, die Vielfalt, und diese stellt uns genauso unausweichlich die Frage: Wer sind wir im Vergleich zu den anderen? Das Fremde wird als Bedrohung der eigenen Identität wahrgenommen, weil es diese in Frage stellt. Sie stellt die Frage, weshalb ich so bin, wie ich bin, oder so lebe, wie ich lebe – und nicht anders?

Somit ist eines der primären Probleme rund um Migration die Angst; sei das wirtschaftlicher Art oder eher rund um die Frage der sozialen/ethnischen Identität kreisend. Nun ist es so, dass sich anhand von Ängsten nicht messen lässt, wie objektiv eine Gefahr ist, deshalb werde ich gar nicht auf die Fragen eingehen, wie wirklich die wirtschaftliche Bedrohung aufgrund von Migrationsströmen für uns ist, noch wie realistisch es ist, dass in absehbarer Zeit z. B. die Scharia in der Schweiz eingeführt wird oder gewisse muslimische Feiertage zu offiziellen Feiertagen werden. Auch werde ich nicht auf ganz reale Probleme in der Alltagsbewältigung eingehen, die aufgrund der grossen Migrationsströme entstehen (z. B. Integration in Schule und Arbeitswelt, unterschiedliche Werte und Rollenverständnisse). Diese zu leugnen wäre naiv. Vielmehr möchte ich aufzeigen, welche Ressourcen uns die Theologie zur Verfügung stellt, um diesen grundlegenden Ängsten zu begegnen, denn wenn wir Migranten angstfrei begegnen, können die wirklichen Alltagsprobleme auch konstruktiver angepackt werden.

Wenn wir Migranten angstfrei begegnen, können die wirklichen Alltagsprobleme konstruktiver angepackt werden.

Für die eher wirtschaftliche Seite der Angst wird der Schöpfungsbericht sowie das Abendmahl Hilfe bieten, um diese zu überwinden. Für die Angst vor Identitätsverlust ist es der Bericht des Pfingstfestes, wie er uns in Apostelgeschichte 2 erzählt wird, sowie noch einmal das Abendmahl, welche uns die Angst vor dem Fremden ablegen lassen.

Der Schöpfungsbericht, das Abendmahl und die Angst, zu kurz zu kommen

Der grundlegenden menschlichen Angst um mangelnde Ressourcen steht der Schöpfungsbericht gegenüber. Der erste Bericht ist so aufgebaut, dass Gott durch seinen Geist und das Wort zuerst die abgrundtiefe Leere des Nichts durchbricht und Leben entsteht. Genau genommen entsteht in den ersten sechs Tagen der Lebensraum, welcher der Mensch für sein Überleben nötig hat. Erst nachdem dieser Lebensraum vorhanden ist, wird die Schaffung des Menschen erzählt. Zudem vollendet im ersten Bericht Gott die Schöpfung am siebten Tag, am Ruhetag. D. h. der Mensch wurde in die Fülle hineingeschaffen und muss seine Existenz nicht selber sichern. Er lebt von der Fülle, die Gott ihm bereitstellt und nicht von seiner eigenen Leistung; er kann es sich sozusagen leisten, seine Existenz mit einem Feiertag zu beginnen. Jeder Mensch, und die Schöpfung insgesamt, ist somit für sein Leben abhängig von Gott; wir leben grundlegend von der Grosszügigkeit Gottes und nicht von der eigenen Leistung.

Daniela Augustine hat zudem darauf hingewiesen, dass die Schöpfung nicht nur der Lebensraum aller Kreaturen, sondern auch Wohnung Gottes ist; Gott wohnt in der Schöpfung inne (vgl. Offb. 21,1–4). Wenn aber Gott in der Schöpfung innewohnt, dann ist er auch Gastgeber: Wir Menschen leben von der Gastfreundschaft Gottes; wir sind seine Gäste hier auf Erden. Und Gäste sind in der Regel keine Selbstversorger.

Wer das Leben grundlegend so sieht und den Schöpfungsbericht theologisch ernst nimmt, verliert die Angst vor dem Fremden, denn er verliert die Angst, es könne zu wenig Ressourcen für unbegrenzte Bedürfnisse haben. Gott, der Gastgeber von uns allen, wird uns alle mit dem Nötigen versorgen. Wohl deshalb bezieht sich einige Jahrhundert später Jesus bei seiner Aufforderung, sich nicht zu sorgen, ebenfalls auf die Schöpfung – und stellt ihr als Negativbeispiel die wirtschaftliche Produktivität und den Erfolg des grössten Königs in Israels Geschichte gegenüber:

«Darum sage ich euch: Macht euch keine Sorgen um euer Leben, ob ihr etwas zu essen oder zu trinken habt, und um euren Leib, ob ihr etwas anzuziehen habt! Das Leben ist mehr als Essen und Trinken, und der Leib ist mehr als die Kleidung! Seht euch die Vögel an! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln keine Vorräte – aber euer Vater im Himmel sorgt für sie. Und ihr seid ihm doch viel mehr wert als Vögel! Wer von euch kann durch Sorgen sein Leben auch nur um einen Tag verlängern? Und warum macht ihr euch Sorgen um das, was ihr anziehen sollt? Seht, wie die Blumen auf den Feldern wachsen! Sie arbeiten nicht und machen sich keine Kleider, doch ich sage euch: Nicht einmal Salomo bei all seinem Reichtum war so prächtig gekleidet wie irgendeine von ihnen. Wenn Gott sogar die Feldblumen so ausstattet, die heute blühen und morgen verbrannt werden, wird er sich dann nicht erst recht um euch kümmern? Habt ihr so wenig Vertrauen? (Matth. 6,25–30).»

Das Konzept von Gott als Gastgeber wird auch im Abendmahl mit den darin vorhandenen Elementen aus der Schöpfung erkennbar: Brot und Wein. Gemäss J.K. Smith ist das Abendmahl ein normatives Bild für die Gerechtigkeit im Reich Gottes: Brot und Wein werden für alle gleichermassen und frei verteilt. Dadurch wird im Abendmahl sichtbar, wie die Welt sein soll. Zudem werden im Abendmahl ganz natürliche Elemente aus der Schöpfung ausgeteilt, welche von Menschen weiterverarbeitet wurden. Der Mensch empfängt somit durch einen anderen Menschen, was wiederum andere Menschen verarbeitet haben. Aber all das ist nur möglich, weil Gott uns in seiner Schöpfung Weizen und Trauben zur Verfügung gestellt hat. Und das hat er, zumindest ursprünglich, allen gleichermassen. Somit widerspiegelt das Abendmahl sowohl Gottes grosszügiges Bereitstellen von dem, was wir brauchen, wie auch den Schöpfungsauftrag von uns Menschen (die Weiterverarbeitung). Letztlich verkörpert es die versöhnte Gemeinschaft, welche durch Gottes Grosszügigkeit möglich wird: Das Gegenüber ist nicht mehr Bedrohung im Kampf um mangelnde Ressourcen, sondern mit mir zusammen Gast an Gottes Tisch und geniesst die Früchte der Schöpfung Gottes, welche von Menschen weiterverarbeitet wurden. Wir alle essen am gleichen Tisch, für uns alle hat es genug und wir alle haben den gleichen Anteil daran. Und das wiederum, weil wir den Schöpfungsauftrag wahrnehmen, ohne welchen das Abendmahl gar nicht erst möglich wäre.

Eine christliche Sozialethik, und damit verbunden auch eine Ethik im Umgang mit Migranten, welche auf der Schöpfung und dem Abendmahl basiert, geht somit nicht primär von der Pflicht und dem Gebot aus, sondern sie gründet auf der Grosszügigkeit Gottes und dem Vertrauen des Menschen in die Grosszügigkeit seines Gastgebers. Sie ist in letzter Konsequenz eine Ethik der Dankbarkeit und der Anbetung des Gastgebers, der seine Gäste überschwänglich mit allem versorgt, was diese zum Leben brauchen. Es ist auch eine Ethik der Solidarität, welche mit den natürlichen Ressourcen arbeitet (Weizen und Trauben) und diese am Tisch Gottes dem Anderen als Nahrung darbietet.

In diesem angstfreien Raum, den Gott uns Menschen zur Verfügung stellt, können dann die konkreten Probleme, welche sich aus dem Zusammenleben – und auch in Folge der Migrationsströme – ergeben, angegangen werden. Allerdings wird die Befreiung von der «Angst um mangelnde Ressourcen zur Befriedigung unbegrenzter Bedürfnisse» sich für Menschen in der westlichen Hemisphäre anders auswirken als für Menschen, die eher im globalen Süden und in Ländern wohnen, die von Armut betroffen sind. Christen, die in wirtschaftlich reichen Ländern wohnen, haben kein Recht, von ihren Mitmenschen aus ärmeren Ländern zu fordern, zuhause zu bleiben, weil sie sich ja keine «Sorgen um ihre Existenz machen müssen». Eine solche Argumentation wäre zynisch und käme dem Urteil von Jesus nahe, als er sagte: «Warum kümmerst du dich um den Splitter im Auge deines Bruders oder deiner Schwester und bemerkst nicht den Balken in deinem eigenen?» (Luk. 6,41). Zudem würde ein solches Argument jeglicher Solidarität entbehren, wie sie im Abendmahl zum Tragen kommt: Wir geben einander das, was wir von Gott erhalten haben und was von Menschen weiterverarbeitet wurde. Und wir geben allen gleichviel und frei von Bedingungen.

Viele Zungen und ethnische Identität: die Bestätigung von Partikularität und Universalität

Im Pfingstbericht wird erzählt, wie die Jünger Jesu mit dem Geist erfüllt wurden und in anderen Sprachen die grossen Taten Gottes verkündeten. Dies ermöglichte allen anderen Anwesenden, die Botschaft je in ihrer Muttersprache zu hören. Die vielen Sprachen an Pfingsten bestätigen sowohl ethnische Vielfalt wie auch die Einheit der Anwesenden, oder anders ausgedrückt: der Geist bestätigt ethnische Partikularität und Universalität zugleich und ermöglicht dadurch eine Gemeinschaft, in der ethnische Vielfalt und Unterschiede bestätigt werden, ohne dass sie trennend zwischen den Menschen wirken.

Als Kirche steht uns mit dem Wirken des Geistes eine Ressource zur Verfügung, welche in der Begegnung mit Migranten ethnische Eigenidentität nicht einfach auflöst noch konfrontiert, sondern immer bestätigt und dennoch verbindend wirkt.

Als Kirche steht uns somit mit dem Wirken des Geistes eine Ressource zur Verfügung, welche in der Begegnung mit Migranten ethnische Eigenidentität nicht einfach auflöst noch konfrontiert, sondern immer bestätigt und dennoch verbindend wirkt. Dies trägt wesentlich dazu bei, die Angst vor dem Verlust der Eigenidentität zu überwinden: Das Gegenüber ist zwar anders und bleibt teilweise immer fremd, aber es ist keine Bedrohung der eigenen Identität mehr. Dadurch führt die Bestätigung der eigenen ethnischen Identität nicht mehr zur Ausgrenzung oder zur Konfrontation mit denjenigen, die anders sind, sondern der Geist bestätigt auch die Universalität des Gottes Volkes und der Menschen schlechthin. Das gibt uns den Freiraum, angstfrei das neue Zusammenleben verschiedener Ethnien zu definieren und auszuhandeln. Das mag dann, genau wie in der Apostelgeschichte auch, nicht immer reibungslos vonstattengehen, aber angstfrei, und zwar auf beiden Seiten: Migranten müssen keine Angst mehr haben, in ihrem neuen Umfeld ihre Eigenidentität aufgeben zu müssen (Assimilation), und die gastgebende Ethnie muss keine Angst mehr haben, von Fremden überrollt und fremdbestimmt zu werden. Somit ist die identitätsstiftende Erzählung der Kirche eine Erzählung, welche Partikularität und Universalität feiert und die Vielfalt unter den Menschen bestätigt.

Die Überwindung von sozialen, und in jener Zeit wohl auch ethnischen Unterschieden, wird ebenfalls im Abendmahl sichtbar: In seinen Ausführungen (1. Kor. 11,17–34) konfrontiert Paulus die Gemeinschaft zerstörenden Tendenzen der Gemeinde in Korinth, die besonders in der Feier des Abendmahls sichtbar wurden: Die reichen Gemeindeglieder warteten mit der Abendmahlsfeier nicht auf die Sklaven, welche wohl noch bei der Arbeit waren, und als diese dann zur Feier kamen, war vom gemeinsamen Mahl nicht mehr viel übrig. Dieses unsolidarische Verhalten entspricht laut Paulus nicht dem gefeierten Ritus, denn im Abendmahl wird die versöhnende und einende Kraft des Evangeliums sichtbar gefeiert. Mit anderen Worten: Paulus baut seine Ethik der Solidarität unter sozial Ungleichen unter anderem auf dem Abendmahl auf; der Ritus steht voll und ganz im Dienst der Sozialethik. Ganz ähnlich ist das ja auch in Apostelgeschichte 2,42–47.

Schlussfolgerung

Während eine Sozialethik rund um das Thema der Migration, die vom Schöpfungsbericht und vom Abendmahl ausgeht, vor allem eine Ethik der Dankbarkeit und der Anbetung ist, ist eine Sozialethik, die von Pfingsten und vom Abendmahl ausgeht, eine Ethik der Identität in Vielfalt und eine Feier der Solidarität und der Ergänzung.

Für unser Thema heisst das: Als Kirchen haben wir, theologisch gesprochen, Ressourcen zur Verfügung, welche uns helfen, die Probleme rund um Migration angstfrei anzugehen. Wir leben vertrauensvoll und in der Gewissheit, dass es in Gottes Schöpfung unbegrenzte Güter für begrenzte Bedürfnisse gibt, und wir erleben die Freude und den Reichtum ethnischer und sozialer Vielfalt, die zu einem Spiegelbild der unermesslichen Vielfalt in Gott wird. Zudem ist unsere Identität stiftende Erzählung eine Erzählung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit, in der die einzelnen Gruppen einander verstehen und bestätigen. Dadurch können wir Probleme, welche durch die Migrationsströme unserer Zeit entstehen, angehen, ohne unsere Privilegien verteidigen zu müssen, und ohne ethnische Vielfalt entweder einebnend verneinen noch ausgrenzen zu müssen. Schon gar nicht können und wollen wir ethnische Vielfalt unterdrücken oder auslöschen. Wir alle sind letztlich Gäste bei Gott, sei dies in seiner Schöpfung allgemein oder an seinem Tisch im Spezifischen. Gott ist ein überaus grosszügiger Gastgeber, der uns alle reichlich versorgt. Er versorgt uns sogar mit der Fähigkeit, die Fülle seiner Schöpfung zum Wohl aller in der Schöpfung weiterzuverarbeiten. Diese Ressourcen helfen uns, die Probleme rund um die Migrationsströme unserer Zeit zum Wohl aller zu lösen.

Dr. Matthias Wenk ist Gemeindeleiter der BewegungPlus Burgdorf. Er ist Doktor der Theologie, Dozent am IGW und war bis vor Kurzem Dozent am TDS Aarau. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Hindelbank.