Referat

Meine Spiritualität als Berufschrist/-in

Dr. Wolfgang Bittner

Sei es aus Interesse am Referatsthema, aus Freude am Wiedersehen von Klassenkollegen und -kolleginnen und ehemaligen Dozierenden oder um den Ort von vier prägenden Jahren wieder aufzusuchen: 120 Absolventinnen und Absolventen pilgerten am 19. Januar ans TDS Aarau, um all dies zu erleben.

Im Einstieg zu seinem Referat machte Wolfgang Bittner klar, dass Berufschristen und -christinnen keine besondere Spiritualität brauchen. Bei ihnen könne jedoch eine Versuchung stärker hervortreten als bei anderen: Diejenige der «Verwertbarkeit» beim Bibellesen und Beten.

Wolfgang Bittner war vor vielen Jahren selbst Absolvent und später Dozent am TDS Aarau. Unterdessen ist er Lehrbeauftragter für christliche Spiritualität an zwei deutschen Universitäten. Er spricht ruhig und ohne jegliche Notizen. Es wird ersichtlich, dass Spiritualität eines seiner Kernanliegen und Steckenpferde ist. Auf dem Einladungstext fragt er: «Wie kann ich meine Bibel lesen, dass sie auch für mich immer wieder spannend ist und bleibt? Wie kann ich beten, wenn mir meine bisherige Form des Betens schwer und zur mühevollen Pflicht geworden ist?»

«Spiritualität meint dreierlei», definiert Bittner zu Beginn, «Bibellese, Gebet und Gemeinschaft». Die beiden ersten Elemente führt er aus in Anlehnung an die Tradition der Benediktinermönche. Sie lesen und beten entlang dieses Leitfadens:

  1. Lectio: Das Lesen der Bibel

  2. Meditatio: Das Nachdenken über das Gelesene, das «Wiederkäuen»

  3. Oratio: Das Reden mit Gott über das, was das Gelesene ausgelöst hat

  4. Contemplatio: Das Stillsein und Gott wirken lassen

«Was über die Ohren in mich eingeht, berührt tiefere Teile meiner Person», führt Bittner aus und ermutigt zum langsamen und lauten Lesen der Bibel. Es gehe nicht darum, den Text zu lesen, um ihn mit dem Kopf zu verstehen, sondern ihn wahrzunehmen: «Mit den Sinnen, ihn verköstigen, ihn klingen lassen, ihn sehen, ihn geniessen.» Dabei müsse auf das Tempo und die Menge geachtet werden: «Lies erst weiter, wenn du gesehen hast, was passiert.»

In der Meditatio soll der Text betrachtet werden: «Was steht im Text?» müsse die Grundfrage sein. «Die Bibel ist ein Richtmass ausserhalb meiner selbst. Ich richte mein Inneres am Text aus – und nicht etwa umgekehrt: Ich biege den Text so zurecht, dass er meiner Vorstellung entspricht.» (siehe dazu das Beispiel im Kasten)

«In der Oratio rede ich mit Gott über den Text», fährt Bittner fort. Er erwähnt dabei die Sprachlosigkeit vieler Glaubenden, wenn es ums Beten geht: Die Erfahrung, dass einem die Worte fehlen oder sie banal und bedeutungslos geworden sind. Auf diese Veränderung angesprochen entgegne er dann: «Hoffentlich betest du nicht mehr wie vor zehn Jahren!» Es sei eine reife Entwicklung, wenn anstelle der vielen Worte das betrachtende, staunende, einfache Gebet trete: «Danke, dass du mich liebst!» Es sei nämlich nicht nötig, Gott zu informieren, ihn zu etwas zu motivieren oder von einer Dringlichkeit zu überzeugen. «Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden», zitiert Bittner Jesus in Matthäus 6,7. Er ermutigt, die Worte beim Beten zum «Du» zu lenken, Gott anzuschauen.

In der Contemplatio gehe es um die Frage nach dem inneren Raum. «Gott wohnt in mir. Also braucht es kein Bemühen meinerseits, Gott zu mir zu holen.» Es gehe vielmehr darum, dass ich «zu mir komme», bei mir bin. Oder wie es Theresa v. Avila ausdrückt: «Wenn ich gewusst hätte, dass ein solch grosser König im Palast meiner Seele wohnt, hätte ich ihn nicht so oft allein gelassen.» Gott möchte an mir wirken, auch wenn keine Worte zwischen uns fallen: «Schweig dem Herrn und halt ihm still, dass er wirke, was er will.» (Gerhard Tersteegen)

Übung: Wort für Wort

Am Beispiel der Geschichte von der Stillung des Seesturms erläutert Bittner, was es heisst, zu lesen, was im Text steht, ohne Interpretation. Bittner kritisiert damit zugleich die Bibelübersetzungen, welche den Beispielvers um das Wort «so» ergänzt hatten:

Und er sprach zu ihnen: Warum seid ihr furchtsam? (Markus 4,40. Elberfelder Übersetzung)

Übung:

Lies und meditiere die ganze Geschichte. Bei Vers 40 frage dich: Warum bin ich furchtsam? Was löst die Frage von Jesus bei dir aus?

In gängigen Bibelübersetzungen wird der Text (fälschlicherweise) ergänzt:

Und er sprach zu ihnen: Warum seid ihr so furchtsam? (Markus 4,40. Luther Übersetzung)

Die Frage von Jesus ist nach diesem Wortlaut jedoch weniger brisant. Das Wort «so» stellt die Furcht direkter in den Kontext des Sturms und der Jünger, die Furcht der Jünger scheint menschlich, verständlich und nachvollziehbar. Aber die Frage von Jesus an die Jünger – und an mich! – will tiefer gehen.