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Können Träume wahr werden?

Anna Shammas

Anna Shammas hat vor vier Jahren ihr Studium am TDS Aarau beendet. Dass es überhautp dazu kam, war die Erfüllung eines grossen Traums, der ihr lange unmöglich schien. Im folgenden Bericht erzählt sie uns ihre Geschichte und macht Mut zum Träumen – nach Gottes Art.

Vor vielen Jahren, als ich noch ein junges Mädchen war, habe ich davon geträumt, im kirchlichen Dienst zu arbeiten und Theologie zu studieren. Dort, wo ich geboren und aufgewachsen bin, schien mein Traum aus verschiedenen Gründen unmöglich zu sein: Familiäre Situation, Distanz zu einer theologischen Schule und viele andere Gründe.

Als ich in die Schweiz imigriert bin, habe ich meinen Traum definitiv verabschiedet. Die Hürde, um solch einen Traum zu erfüllen, war ja viel zu gross. Minderwertigkeit und Ohnmachtsgefühle beherrschten mich. Ich konnte hier keine Sprachschule besuchen, habe die Sprache bloss im Alltag gelernt. Keine Wurzeln, keine Bindungen und kein Job ... Das Leben war ein Mix aus Verlustschmerzen und existenziellen Ängsten – bis zu dem Punkt, wo ich Gott neu begegnet bin und entdeckt habe, dass er sich um mich kümmert, dass ich ihm viel wert bin. Diese grosse Entdeckung hat meine Ängste besiegt. Aber mein grosser Traum blieb unmöglich, ja sogar absolut unvorstellbar.

Als mir bewusst wurde, dass ich Mundart nie beherrschen werde, dachte ich, dass ich keiner Kirchgemeinde in der Schweiz nützlich sein kann, und dass ich unfähig bin, eine theologische Ausbildung zu absolvieren. Das neue Leben in einer freundschaftlichen Beziehung zu Gott hat mich jedoch gelehrt, wie ich trotz verlorener Träume in Freude und Dankbarkeit leben kann.

Für mich zu spät zum Träumen

Eines Tages verliess ich den Bahnhof Aarau bei der hinteren Treppe. Mit einer Freundin ging ich die Strasse hoch und bemerkte zum ersten Mal das Gebäude mit den roten Erkern. Meine Freundin informierte mich, dass dieses Gebäude eine theologische Schule ist. Mit grosser Bewunderung schaute ich das Gebäude an und war überrascht, dass diese Schule so nahe von meinem Wohnort war. Eine tiefe, süsse, altbekannte Stimme erwachte sofort in mir. Aber leider war es für mich zu spät, davon zu träumen, dachte ich mir. In den nächsten Tagen, Monaten und Jahren bin ich immer wieder vorbeigegangen und habe reingeschaut. Ich habe jeweils eine Frau beobachtet, die dort gearbeitet hat. Jedes Mal träumte ich davon und betete im Herzen, ob Gott mir die Möglichkeit geben würde, auch da zu arbeiten. Dazu müsste ich zuerst im Unterricht sitzen und lernen, wie die Studierenden, die ich auch sah. Ach ... schon wieder war der alte Traum am Erwachen. Ich blieb treu in meinem Gebet und brachte mein Anliegen vor Gott – für mich der höchste Traum, der mir fast unmöglich schien.

Vielleicht am TDS Aarau?

Dann bin ich doch in einen kirchlichen Dienst eingestiegen. Jeder Schritt auf diesem Weg war eine eigene Geschichte, die ich hier nicht ausführe. Eines Tages fragte mich mein Vorgesetzter, ob ich mich ausbilden lassen will für meinen Dienst. Ich war vor lauter Freude fast ausgeflippt: «Ja, ich will, aber wie und wo?» Er antwortete: «Wie? Das passiert zuerst durch Gebet und Vertrauen. Aber wo? Vielleicht am TDS Aarau!»

«Schockiert vor lauter Freude» – so meine Gefühlslage in diesem Moment.

Darauf ging ich an ein Schnuppergespräch ans TDS. Dabei erwähnte ich meine Befürchtung: «Ich bin doch eine Last für die Schule!» Mein Gegenüber antwortete: «Ja, wir sind uns dessen bewusst, aber gerne wollen wir diese Last tragen.» Seine Antwort hat mich tief berührt. In diesem Moment habe ich Gottes Hand erlebt. Seine Aussage wurde dann Wirklichkeit: Ja, ich war eine Last, aber die Schule hat mich nicht nur gerne getragen, sondern auch befähigt und geschult, so dass ich meines Traums würdig wurde. Nach 15 Jahren ist dieser in Erfüllung gegangen, in «God’s perfect timing» – Gottes perfektem Zeitplan.

Tränen der Dankbarkeit

Am ersten Schultag begrüsste der Klassenlehrer mich: «Du bist herzlich willkommen am TDS Aarau!» Da sagte Gott zu mir: «Und ich schenke dir einen Platz hier als Prinzessin und Tochter von mir.» In diesen Augenblick liefen heisse Tränen der Dankbarkeit aus meinen Augen. Ich konnte es nicht glauben! Juhuuuui – Papa hat es getan …!

«Ich wusste damals ganz genau, dass ich so etwas nicht erreichen kann. Und doch konnte ich nicht aufhören zu träumen.»

Gottes Dienerin von ganzem Herzen

Ich habe von Herzen versucht, Gottes unverdientem Geschenk gemäss treu zu leben. Viele Stunden habe ich mit Übersetzen verbracht, und viele weitere Stunden übte ich mich in der deutschen Rechtschreibung. Vor allem habe ich mich für die neue Prägung geöffnet. Ich wollte von jedem Wort profitieren und von jeder dozierenden Person etwas Neues lernen. Ich wollte Gottes Dienerin sein, so wie er es sich vorstellt, von ganzem Herzen.

Alle Aufgaben am TDS konnte ich «mit seiner Hilfe» ausführen. Ich habe es geschafft – trotz all meiner Schwächen! Weil er mir versichert hat, dass seine Kraft in den Schwachen mächtig ist.

Während meinem letzten Studienjahr habe ich gemerkt, wie ich mich während den vier Jahren verändert habe. Die süsse Stimme in mir ist wieder erwacht und ich habe angefangen zu träumen. Dieses Mal habe ich davon geträumt, dass ich am TDS unterrichte. Ich wollte dieses Feuer und Vertrauen in mir allen zukünftig Dienenden weitergeben. Ich wollte mein Herz mit Studierenden teilen, sie motivieren, unvorstellbare Schritte mit Gott zu tun. So wie ich von vielen Dozierenden geprägt wurde, wollte ich auch andere Menschen prägen.

Nun, dieser neue Traum war noch verrückter als der alte. Ich wusste damals ganz genau, dass ich so etwas nicht erreichen kann. Und doch konnte ich nicht aufhören zu träumen. Ich wollte etwas beitragen zu Gottes Mission in der Schweiz. Und am TDS wäre ich gerade an der Quelle von zukünftigen Mitarbeitenden ... Auf der anderen Seite sah ich mich als zu schwacher, unwürdiger Mensch für eine solch grosse Ehre.

Zwei Jahre nach dem Studium bekomme ich unerwartet einen Anruf vom TDS mit einer Anfrage, ob ich bereit bin, am TDS zu unterrichten. Wiederum liefen heisse Dankbarkeitstränen grosszügig. Ich sagte zu Gott, dass ich solche Ehre und Aufgabe nicht verdient habe. Aber halt – die Gnade ist immer unverdient!

«Kindlich ist nicht kindisch, sondern die Art, wie Kinder sich auf ihren himmlischen Vater verlassen können. Vertrauen heisst nicht immer, alles zu bekommen. Manchmal heisst es auch, etwas zu verlieren und trotzdem zu glauben, dass Gott gütig ist.»

Kindlicher Glaube statt Heldentaten

Gott sagte mir damals, dass er meine Bereitschaft, mein Herz und den kindlichen Glauben in mir braucht. Er bräuchte keine Heldentaten oder grosse Begabungen. Wesentlich sei ein Glaube – wie Kinder, die sich einem Vater total anvertrauen können. Dieser Traum ist wieder erfüllt worden. Den ersten Unterrichtstag erlebte ich ähnlich wie meinen ersten Schultag am TDS vor vielen Jahren. Meine Gefühle waren wiederum: «Ich kann es nicht. Aber ich weiss genau, dass du, Gott, es kannst. Und ich bin bereit für dein Wirken in mir.»

Kindlich – nicht kindisch

Meine Träume sind noch nicht beendet. Immer wieder kämpfe ich zwischen der Realität und Gottes Wahrheit. Meine Realität sagt, dass ich nichts habe und niemand bin. Aber Seine Wahrheit sagt, dass er diese Welt mit mir (und mit uns allen!) gemeinsam verändern will. Darum will ich auf keinen Fall den kindlichen Glauben in mir verlieren. Kindlich ist nicht kindisch, sondern eine spannende Art und Weise, wie Kinder sich auf ihren himmlischen Vater verlassen können, auch wenn die irdischen Umstände etwas anderes sagen. Vertrauen heisst nicht immer, alles zu bekommen. Manchmal heisst es auch, etwas zu verlieren und trotzdem zu glauben, dass Gott gütig ist. Aber die Kraft zu träumen trägt in vielen Situationen durch.

Träumen nach Gottes Art

Tatsache ist, dass wir alle eingeladen sind, mit Gott unglaubliche Träume zu erleben. Aber wenn wir träumen wollen, dann sollen unsere Träume seiner Kraft angemessen sein und sich nicht auf unsere eigenen Möglichkeiten beschränken: «Gott kann unendlich viel mehr an uns tun, als wir jemals von ihm erbitten oder uns ausdenken können. So mächtig ist die Kraft, mit der er in uns wirkt. Ihm gehört die Ehre in der Gemeinde und durch Jesus Christus in allen Generationen, für Zeit und Ewigkeit! Amen.» (Eph. 3,20–21)

Dieser Bericht ist kein Phantasiegeschichte, sondern ein Teil einer grossen Lebensgeschichte, die durch Gottes Treue erlebbar wurde. Ich habe gelernt, dass Gott all meine Träume wichtig sind. Er erwartet von mir keine besonderen Fähigkeiten, weil er mich befähigen kann. Er prüft mein Herz und meine Motivation. Wenn ich in der richtigen Herzenshaltung bete, dann gibt er nur eine der folgenden drei Antworten: «Dein Traum wird in Erfüllung gehen» oder «Warte, es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt» oder «Vergiss es – ich habe für dich etwas viel Besseres bereit.»

Auch wenn manche Träume unerfüllt bleiben: Der Herr bleibt immer treu.

Träumt weiter, liebe Leserinnen und Leser, und denkt daran: Unsere Träume sollen an Gottes Kraft gemessen werden und nicht an unseren begrenzten Möglichkeiten. Er hat viele Geschichten mit unterschiedlichen – normalen oder sogar schwachen, scheinbar unwürdigen – Menschen geschrieben. Vielleicht ist Ihre Geschichte die nächste ...

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Anna Shammas leitet zusammen mit ihrem Mann die Arabische Gemeinde der EMK Aarau und unterrichtet am TDS Aarau das Modul Transkulturelle Kompetenzen. Dazu sagt sie: «Ich vermittle den Studierenden, wie man für Menschen, welche in die Schweiz migriert sind, Heimat sein kann – auch als Kirche. Dieser Einsatz kann bei den Betroffenen einen Heilungsprozess auslösen. Mir ist es deshalb so wichtig, dass er professionell gestaltet ist. Integration gelingt dann, wenn wir die Menschen dort abholen, wo sie stehen – und sie nicht in unser System zwingen. Dieses Anliegen lebe ich in meinem Beruf und kann es nun meinen Studierenden vermitteln.»