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Kirche und Gesundheit im Wandel der Zeit

Philipp Frei

Vier von fünf Personen geben an, dass ihnen Gesundheit wichtig ist (1). Gemäss der Zukunftsforschung dürfte dieser Wert sogar noch steigen: Gesundheit gilt als einer der aktuellen Megatrends (2). Gleichzeitig steigen die Zahlen psychisch kranker oder pflegebedürftiger Menschen und das Gesundheitssystem kommt an seine Grenzen. In den Kirchen ist davon derweil wenig zu spüren. Das kirchliche Gesundheitsengagement spiegelt sich aktuell vor allem in Geschichtsbüchern. Wie aber könnte die Kirche einen Beitrag leisten zu diesen Herausforderungen? Wie können wir Menschen, die an Krankheiten leiden, begleiten, unterstützen und ihnen Hoffnung spenden?

Gesundheit ist mehr als Nicht-Kranksein

Gesundheit ist ein Thema, das uns alle betrifft und durch unser Leben begleitet. Dabei bleibt das Thema im Hintergrund, solange wir und die Menschen in unserem Umfeld gesund sind. Gesundheit wird paradoxerweise meist erst dann wichtig, wenn sie nicht mehr vorhanden ist. Dabei ist Gesundheit in einem modernen Verständnis aber mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation hat dies so beschrieben:

«Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben [...].» (Ottawa Charta, 1986).

Es geht also bei der Gesundheit um die drei Faktoren der körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheit. Hier schliesst sich ein Bogen von der Sozialen Arbeit mit Konzepten zu Selbstwirksamkeit oder sozialer Teilhabe über die Psychologie bis zu der klassischen Medizin.

Aus einer christlichen Perspektive könnte man Gesundheit als ein Heilsein an Körper, Seele und Geist bezeichnen. Als Kirche könnten wir heilsame Angebote für Seele und Geist bieten und so auch zu der körperlichen Genesung beitragen.

Zwischen Krankheit als Strafe und Krankheit als Aufgabe

Es mag angesichts der grossen Bedeutung kaum zu verwundern, dass Gesundheit auch in der Bibel und der Kirchengeschichte eine grosse Rolle spielt. Die Beziehung zwischen der Kirche und Gesundheitsthemen ist lang, verworren und wechselhaft. Da ist die Rede von Krankheit als Strafe Gottes und damit verbunden die Theodizee-Frage (3). Es gibt die Geschichte des barmherzigen Samariters, die Heilungswunder Jesu und die klösterliche Tradition der Heilkunde. Genauso gibt es aber Momente in der Geschichte, in denen sich die Kirche schwer tat mit Gesundheitsthemen; in der jüngeren Zeit etwa bei der Empfängnisverhütung oder Aids.

Unbestritten ist aber, dass die Kirche und einzelne Christinnen und Christen einen wesentlichen Beitrag auf dem Weg zum heutigen Gesundheitssystem geleistet haben. Dafür stehen Namen wie Hildegard von Bingen, Henry Dunant oder Florence Nightingale, welche mit ihrem aus dem christlichen Glauben begründeten Engagement Grosses geleistet haben. Dass die christliche Kirche auch heute und in Zukunft einen Auftrag in der Versorgung und Begleitung kranker Menschen hat, ist kaum bestritten. Bei der Form des Engagements hört die Einigkeit aber schnell wieder auf.

Die Beziehung zwischen der Kirche und Gesundheitsthemen ist lang, verworren und wechselhaft.
Philipp Frei Dozent TDS Aarau

Spiritualität als Ressource für die eigene Gesundheit

Die Klöster wurden längst von den Spitälern abgelöst. Die Schulmedizin hat sich von der Religion emanzipiert. Und dennoch hält sich Spiritualität hartnäckig und ist nicht aus dem Gesundheitsbereich wegzudenken. Die Kirche ist dabei jedoch nur noch eine Akteurin unter vielen und hat ihre Deutungshoheit verloren. Yoga, Achtsamkeit, Meditation, Esoterik, Schamanismus: Die Aufzählung konkurrenzierender – oder je nach Perspektive ergänzender – Modelle liesse sich fast endlos fortsetzen. Dies kann als Bedrohung wahrgenommen werden. Neutral betrachtet bedeutet es schlicht, dass eine gesunde Spiritualität nach wie vor von sehr vielen Menschen als relevanter Bestandteil ihrer eigenen Gesundheit gesehen wird.

Dass Spiritualität und Glauben eine wichtige Ressource im Umgang mit Krankheit sein können ist unbestritten. Gleichzeitig lösen Erkrankungen aber oft auch viele Fragen und Zweifel an Gott oder den eigenen Glauben aus. Hier öffnet sich der Kirche ein weites Feld. Die seelsorgerliche Begleitung kranker Menschen und derer Angehörigen ist Aufgabe und Chance zugleich. Die wird oft schon wahrgenommen in der Form von Besuchsdiensten, Sterbebegleitungen oder Seelsorge-Angeboten.

Aber die Rolle der Kirche kann und muss weiter gehen. Das Gesundheitssystem in seiner jetzigen Form kommt an seine Grenzen. Beispiele sind die steigenden Kosten, der Mangel an qualifiziertem medizinischem Personal, die starke Zunahme an betreuungs- und pflegebedürftigen Personen durch den demografischen Wandel, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig sehen wir eine starke Zunahme von psychischen Erkrankungen wie Depression, Ängste oder Psychosen, gerade auch bei Kindern und jungen Menschen. Diese Herausforderungen verlangen nach Antworten. Die Kirche könnte neue Modelle sozialdiakonischen Handelns denken und zumindest einige umsetzen. Etwa durch einen Ausbau ganzheitlicher Beratungs- und Unterstützungsangebote wie die Triangel Beratung der Zuger Kantonalkirche, die Streetchurch der reformierten Kirche in Zürich oder die Stärkung zahlreicher lokaler Initiativen.

Kirche nur für Gesunde?

Gleichzeitig sieht die Realität in den Kirchgemeinen vor Ort oft anders aus. Die Inklusion kranker Menschen ist aufwändig und mühsam. Es bedarf dazu Wissen zu den Krankheitsbildern und Sensibilität für die Bedürfnisse dieser Menschen. Und es braucht Zeit. Zeit, um diese Menschen aufzusuchen. Zeit, sich ihre Geschichten anzuhören. Zeit, sie auf einem Stück ihres Weges zu begleiten.

Daher finden Menschen mit Krankheiten oft keinen Platz in der Kirche. Sie sind vielleicht nicht mobil und sind so von vielen Gemeindeaktivitäten ausgeschlossen. Oder sie sind psychisch krank und ziehen sich aus Überforderung und Scham zurück. Auch hier sind neue Modelle gefragt, wie trotzdem tragende Gemeinschaft entstehen kann und wir als Kirche diese Menschen begleiten können. Ein erster Schritt wäre eine kritische Betrachtung der eigenen Kenntnisse und der kirchlichen Angebote; ein zweiter Schritt der Aufbau von geeigneten Strukturen und Ressourcen.

Und zuletzt soll nicht verschwiegen werden, dass Kirche und Glaube ja auch Ursache psychischer Erkrankungen sein können. Überforderung und Überlastung machen auch vor Freiwilligen und Angestellten der Kirche nicht halt. Gerade in Zeiten vieler unbesetzter Stellen und einer sinkenden Anzahl von Freiwilligen wird die Belastung für die einzelnen Menschen höher – leider oft zu hoch. Wo Berufung zum Beruf oder zum freiwilligen Engagement wird, stehen Verantwortliche in Kirchen in der Pflicht, sorgsam mit den Ressourcen der Menschen umzugehen.

Wo Berufung zum Beruf oder zum freiwilligen Engagement wird, stehen Verantwortliche in Kirchen in der Pflicht, sorgsam mit den Ressourcen der Menschen umzugehen.
Philipp Frei

Was heisst das nun für mich?

Wie können wir als einzelne Menschen mit diesen Herausforderungen umgehen? Gesundheit beginnt wohl zuerst beim eigenen Selbst. Wie gehe ich mit meinem Körper, meinem Geist und meiner Seele um? Nehme ich mir die Zeit, in mich hineinzuhören und zu erforschen, wie es mir denn eigentlich geht? Erst nach dem Blick nach innen kann der Blick nach aussen erfolgen. Wie geht es den Menschen in meinem Umfeld? Wer braucht meine Unterstützung? Wer wünscht sich ein Gespräch? Hier braucht es offene Augen, ein waches Herz und zupackende Hände, so wie es Florence Nightingale in ihrer Tätigkeit als Krankenpflegerin gebetet hat:

«Gib mir sanfte Hände, ein gütiges Herz und eine geduldige Seele. Hilf, dass ich niemandem durch Unwissenheit und Nachlässigkeit schade. Für jene, die gebeugt sind von Kummer und Weh, Angst und Schmerz, gib Kraft zum Durchhalten. Schenk mir, o Gott, deinen Segen zu meiner Aufgabe. Amen.»

Gekürzt nach einem Gebet von Florence Nightingale

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Philipp Frei ist Geschäftsführer des Dachverbands Budgetberatung Schweiz und unterrichtet Projektmanagement am TDS Aarau. Nach einer Ausbildung zum Erlebnispädagogen hat er Unternehmenskommunikation und Sozialmanagement studiert. Er ist Vater von zwei Kindern und lebt in Balsthal.

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1 Umfrage zum Stellenwert der eigenen Gesundheit in der Schweiz bis 2017.
Veröffentlicht von Statista Research Department, 16.06.2022

2 siehe Megatrend Gesundheit auf ­zukunftsinstitut.de

3 Kurz erklärt: Die Frage, warum Gott das Leid in der Welt zulässt