Referat

Kirche der Zukunft

Dr. Walter Dürr

«People never miss what they don’t know.» – Leute vermissen nicht, was sie nicht kennen. Daher würden Erneuerungsabsichten oft auf Widerstand stossen. Walter Dürr spricht über die Erneuerung der Kirche – was keineswegs heisse, dass alles schlecht sei. Sein grosses Lebensthema teilte er am Alumnitag des TDS Aarau im Januar 2022.

«Die Kirche hat noch soviel Geld, dass sie auch den Untergang gut gestalten kann.» So Walter Dürrs leicht zynisches Fazit nach der Lektüre eines Grundlagenpapiers der Evangelischen Kirche in Deutschland. Auch in der Schweiz sähe es nicht besser aus. Ein Theologiestudent meinte auf Walter Dürrs Frage nach der Zukunft der Kirche: «Die Löhne der Pfarrpersonen sind noch für 50 Jahre gesichert ...»

Walter Dürr versicherte den Zuhörenden, dass sein Referat gegen Ende auch hoffnungsvolle Züge enthalte. «Aber vorerst wird es schon ein wenig depressiv.» Diverse Studien zeigten die schwindende Bedeutung der Kirche. In Amerika: Kirche wird von der Bevölkerung als rechthaberisch, herablassend und verurteilend wahrgenommen. Schweiz: Die Kirchen werden kleiner, ärmer und älter – ganz egal, wie sie sich selber verhalten.

Walter Dürr räumt auf mit der Vorstellung, die richtigen Strategien könnten die Kirche retten. Markus Beile skizziert in seinem Buch «Erneuern oder Untergehen» fünf fruchtlose Strategien. Darunter die Idee, die Kirche besser zu vermarkten, die Angebote zu diversifizieren oder – in Bezug auf die Landeskirchen – sich den Freikirchen anzugleichen.

Warum sind solche Massnahmen nicht gemeindebauend? Walter Dürr sieht eine Antwort in einer Einschätzung, die er bei einem überkonfessionellen Treffen hörte. Ein Mitglied der Griechisch-Orthodoxen Kirche erzählte, dass diese immer noch eine vergleichsweise hohe Mitgliederquote von 50 Prozent der Bevölkerung habe. Doch diese «Zurückgebliebenen» seien konservativ und hielten die Kirche nicht für erneuerungsbedürftig. Innovative Gläubige und moderne Suchende hätten die Kirche bereits verlassen – gleiche Verhältnisse wie in der Schweiz also, bloss weniger fortgeschritten.

Im Essay «Warum die Kirche keine Zukunft hat» nennt der deutsche evangelische Theologe und Philosoph Heinzpeter Hempelmann elf «Provokationen». Seine Einschätzungen (ein Auszug):

  • Sie ist als geschlossenes System nicht erneuerungsfähig. Das zeige sich auch in der Geschichte. (Fast jeder Aufbruch wurde unter dem Vorwand des religiösen Friedens bekämpft.)

  • Sie hat keine Zukunft, weil viele sich schämen, zu ihr zu gehören.

  • Sie hat ihr USP «unique selling proposition» (das sog. Alleinstellungsmerkmal) verloren. Die Kirche sei zu einer Kopie der Gesellschaft geworden. Sie thematisiere z. B. einfach politische Anliegen (seien sie links oder rechts).

In die Stimmung solcher Einschätzungen hinein fordert Walter Dürr die Zuhörenden auf, die eigene Religion ernst zu nehmen: «Papst Benedikt XVI war überzeugt von einer anachronistischen Kirche. Die Kirche darf gegen den Zeitgeist gehen», weil sie etwas anbiete, das jenseits von Gesellschaftstrends und Kulturepochen Bestand habe. Die Kirche müsse unbedingt eine Vision entwickeln, welche über die optimale Verwaltung des Niedergangs hinausgeht. «Neues muss möglich werden. Es braucht eine Veränderung, auch der Strukturen.»

Aufbrüche in der Anglikanischen Kirche

Ein Modell von Kirche, die sich erfolgreich gegen den Untergang wehrt, findet Walter Dürr in aktuellen Aufbrüchen der Anglikanischen Kirchen in England. Regelmässig reist er mit Leitenden von Schweizer Landeskirchen an die Schauplätze und lässt sich inspirieren. Die Trendwende zeige sich in zahlenmässigem Wachstum einiger Diözesen. Oder auch im Umstand, dass Kirchengebäude zurückgekauft würden, welche vor einigen Jahren verkauft worden waren. Vor allem zeige sie sich in einem neuen Geist der Einheit: «Leitende mit unterschiedlicher Ausprägung verfolgen das gleiche Ziel. So z. B. Graham Tomlin, Bischof von Kensington, und Alt-Bischof Richard Charters von London. Der eine mit charismatischem Hintergrund, der andere mit einer katholischen Prägung.» Sie seien befreundet und beide Kirchenerneuerer.

«Nicht nur Wissenschaft soll eine Gemeinde leiten, aber auch nicht reiner Pragmatismus.»

Graham Tomlin sieht drei Elemente von nachhaltiger Erneuerung:

  1. Erneuerung von unten

    Hier müsse Erneuerung beginnen: «Der Geist weht, wo er will. Er soll Raum haben. Man will ihn vielleicht instrumentalisieren, ihn dämpfen. Wo man solches sein lässt, kann er wirken.» Die Kirche müsse von einer Betreuungs- zu einer Beteiligungskirche werden. Er sehe darin das «Priestertum aller Gläubigen» erfüllt. Dürr zitierte den Theologen Martin Brüske: «Aus Betreuten werden Subjekte des Glaubens, die ausstrahlen, Gemeinschaften gründen und den Glauben im Alltag teilen.»

  2. Erneuerung von oben

    Die «Renovation» müsse geleitet werden. Bei einer Renovation wird nicht das ganze Haus abgerissen. Es werden auch nicht nur ein paar Wände neu gestrichen. Die Leitung müsse entscheiden können, wo ev. eine Mauer herausgebrochen werden müsse. Und wo nicht, weil es eine tragende Mauer ist: «Jesus muss bleiben; die Form nicht unbedingt.»

    An dieser Stelle richtete Walter Dürr einen Appell an Kirchgemeinderäte: «Schafft Räume, ermöglicht und verbietet nicht!» Und auf der anderen Seite: «Leitung ist nötig. Sie garantiert Einheit und eine gewisse Ordnung.» Begeisterung alleine sei kein Qualitätsmerkmal einer Bewegung. Aber wenn sie eingebunden sei, könne sie Erneuerung fördern.

  3. Theologische Reflexion

    Die theologische Reflexion soll «oben» und «unten» und im Dialog der beiden stattfinden. Keine Theologie ohne Gemeinde – und keine Gemeinde ohne Theologie: Nicht nur Wissenschaft soll eine Gemeinde leiten, aber auch nicht reiner Pragmatismus. Es brauche die Reflexion, und zwar nicht nur innerhalb der Leitung, sondern bei allen.

Walter Dürr schliesst mit einer Bildbetrachtung aus der Hagia Sofia: Maria und Johannes neigen sich Christus zu. Walter Dürrs Kommentar: «Sich Christus zuneigen heisst, sich den Menschen zuneigen. Beides ist Voraussetzung für eine lebendige Kirche.»

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Dr. theol. Walter Dürr ist Pfarrer der landeskirchlichen Gemeinschaft jahu in Biel und Direktor des «Zentrum Glaube und Gesellschaft» an der Universität Fribourg in der Schweiz.

Quellen

  1. Gabe Lyons, The Next Christians: The Good News About the End of Christian America. Doubleday Religion, 2010.

  1. Matthias Herren in «Düstere Zukunft für Reformierte». Neue Zürcher Zeitung, 2010.

  2. Markus Beile, Erneuern oder untergehen: Evangelische Kirchen vor der Entscheidung. Gütersloher Verlagshaus, 2021.