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Grüne Auen und dunkles Todestal

Der Psalm 23 gehört zu den bekanntesten Bibeltexten überhaupt und wird von Christen in aller Welt durch alle Jahrhunderte hindurch gebetet. Für Monika Riwar, Pfarrerin und TDS-Dozentin, ist klar: Es gibt noch viel zu entdecken an diesem altbekannten Wort. Ihr Text ermutigt uns, durch Psalm 23 mit Gott auf Kurs zu bleiben.

In Beziehung stehen

Psalm 23 ist ein sogenanntes Vertrauenslied, in welchem Gott in zwei Bildern erscheint.

Der Herr ist mein Hirte, sagt der Beter. Nicht einfach ein Hirte, sondern meiner! Zwischen Gott als dem Hirten und dem Beter als dem Schaf seiner Weide besteht eine nahe Beziehung.

Mit dem Hirtenbild ist der Aspekt der gütigen und machtvollen Herrschaft verbunden: Der Hirte führt und schützt sein Volk. Er versorgt die Seinen, führt sie auf grüne Auen und an stille Wasser; und sucht rechte Pfade für seine Herde, also Wege, die den Seinen heilsam sind.

In der Regel beachten wir nur dieses erste Bild; doch in Vers 5 kommt ein zweites. Gott wird nun mit einem Gastgeber verglichen: Du bereitest mir einen Tisch angesichts meiner Feinde, du salbst mein Haupt mit Öl, mein Becher fliesst über. Gott ist der Gastgeber an heiliger Stätte, der dem Bedrängten den Tisch deckt und ihm Mahlgemeinschaft schenkt.

Idylle pur?

Psalm 23 atmet die Atmosphäre des Vertrauens, er klingt sogar fast schon idyllisch. Am überraschendsten ist wohl die Aussage: «Mir wird nichts mangeln!»

«Mit Gott als meinem Hirten wird mir nie mehr etwas fehlen!» So oder ähnlich mag Israel gedacht haben, als sie den ägyptischen Frondienst hinter sich lassen durften. Sie erlebten Grosses mit Gott, als er sie hinausführte aus dem Mangel. Wenn Gott in die Weite führt, dann liegen Not und Kampf hinter uns, oder nicht?

In der Seelsorge bin ich oft mit Menschen im Gespräch, bei denen Vers 1 Widerspruch und Ärger auslöst! «Mir wird nichts mangeln» – das klingt wie Hohn in ihren Ohren, ist es doch eine grosse Diskrepanz zu dem, was sie aktuell erleben. Und sie fragen sich: «Was mache ich falsch, dass ich Mangel erlebe?» Oder es wachsen Zweifel gegen Gott, dass er nur leere Versprechungen macht.

«Was mache ich falsch, dass ich Mangel erlebe?»

Was heisst hier, mit Gott auf Kurs bleiben? Zunächst bedeutet es, den Psalm nicht nach Vers 1–3 wegzulegen, sondern weiter zu lesen. Psalm 23 ist keineswegs naiv und weltfremd. Ab Vers 4 kommt Gefahr und Not ins Blickfeld: das dunkle Todestal und die bedrängenden Feinde!

Der Wechsel der Landschaft

War gerade noch von grünen Auen und stillen Wassern die Rede, verändert sich in Vers 4 die Landschaft radikal: Verschwunden ist die scheinbare Idylle, stattdessen befinden wir uns in einem dunklen, steinigen und gefahrvollen Tal, das uns ängstigt.

Und etwas Zweites verändert sich: Mit dem Wechsel zum bedrohlichen und beschwerlichen Wegstück wechselt auch die Sprache vom Er, also der dritten Person, zur direkten Anrede: Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich, du deckst mir den Tisch im Angesicht meiner Feinde.

Dieser Wechsel in der Sprache ist bedeutsam. Die 3. Person ist in den Psalmen oft die Lobpreis-Sprache. Beispiele hierfür sind die Hallel-Psalmen 111–113 oder Psalm 136. Im Lobpreis wird die Grösse und die Güte Gottes verkündet und bezeugt.

Die Du-Sprache dagegen wird insbesondere bei Vertrauensbekundungen gebraucht – und in der Klage! Der Beter ruft zum Beispiel in Psalm 13: «Bis wann, HERR, willst du mich vergessen? Bis wann soll ich Kummer hegen in meinem Herzen? Schau her, antworte mir, HERR, mach hell meine Augen …» Die Klage wendet sich indirekt an Gott und sucht inmitten der Not Zuflucht bei ihm. So erklingt nicht nur im Vertrauensgebet, sondern auch in der Klage, das Du der Beziehung zu meinem Herrn und Gott!

Klage und Vertrauen

Im Wechsel zum Du klingt in Vers 4 die ursprüngliche Klage noch nach. Im dunklen Tal hatte der Betende Zuflucht bei Gott, seinem Hirten, gesucht: Wie lange noch HERR? Führe mich wieder auf grüne Auen. Lass mich nicht zugrunde gehen … – und hat erfahren, dass Gott ihn hindurchbringt und nicht verlässt!

Oft begegnet mir die Haltung: Klage ist Ausdruck von Zweifel und darum nicht wirklich «koscher». Sie ist bestenfalls eine Art Vorstufe von echtem Vertrauen. Als wirklich christlich scheint nur die Vertrauensäusserung zu gelten, die mitten im Todestal, mitten in Not und Bedrängnis, ruhig und gelassen zum Herrn spricht: «Du bist mein Gott» (Psalm 16,2). «Meine Seele ist still in mir wie ein kleines Kind bei seiner Mutter» (Psalm 131,2).

Ich teile diese Sicht nicht, denn die Sprache der Psalmen lehrt uns etwas anderes: Die Klage ist die Schwester der Vertrauensbekundung! Denn Gott klagend unser Herz öffnen, unsere Zweifel und Angst zeigen, tun wir nur, wenn wir eine Beziehung zu ihm haben. Klage ist Vertrauen: Vertrauen im Dunkel der Nacht!

In Psalm 23 finden wir zwei völlig verschiedene «Landschaften» vor: die grünen Auen mit stillen Wassern und das dunkle Todestal. Das eine atmet Ruhe und Sicherheit, das andere Gefährdung und Angst. Was bei beiden gleich ist, ist allein die Gegenwart des Hirten und unsere Zugehörigkeit zu ihm! Er ist hier.

Gestärktes Vertrauen

Psalm 23 verspricht uns nicht einen Dauerzustand ohne Mangel. Solange wir in dieser Welt unterwegs sind, begegnen uns dunkle Täler und bedrängende Zeiten auf unserem Weg. Versprochen sind uns aber die Gegenwart und der Beistand unseres Herrn, der Stecken und Stab mitträgt. Der Stecken ist eine Art Keule, mit der er uns schützt und verteidigt; der Stab ist der Leitstab, mit dem er uns bei sich hält. Und er ist unser Gastgeber angesichts der Feinde. Er deckt den Tisch für uns und demonstriert dem Feind damit ins Angesicht, dass wir zu ihm gehören und unter seinem Schutz stehen. Unser Hirte steht zu uns!

Psalm 23 ist nicht im dunklen Todestal selber entstanden, wo eher Klage aufsteigen würde; der Psalm ist ein Lob- und Vertrauenslied im Rückblick auf durchgestandene Not.

Die Klage ist die Schwester der Vertrauens­bekundung.

Doch gerade im Rückblick geschieht auch ein Ausblick! Die Erfahrung, dass Gott hindurchgeholfen und wieder grüne Auen für uns bereitet hat, führt zu gestärktem Vertrauen im Hinblick auf künftige Not: Und ob ich auch wandere im finsteren Tal mit gefahrvollen Wegen – du bist bei mir!

So kommt es, dass wir Psalm 23 nicht nur auf den grünen Auen, sondern auch im dunklen Tal beten und singen. Der Psalm wird zum Trost und zur Verheissung auf Wegstrecken, in denen die Klage in uns aufsteigt: Herr, wie lange noch? – Dennoch bleibe ich stets an dir; mir wird nichts mangeln, denn du bist bei mir; ich fürchte kein Unglück, dein Stecken und Stab verlassen mich nicht! Du wirst meine Seele erquicken – denn du bist mein Herr und mein Gott!

Mit Gott auf Kurs bleiben wir, indem wir an ihm dranbleiben.