Gott will, dass Kirche gelingt!
Christine Reibenschuh ist gern dabei, wenn Kirche neu gedacht wird. Die Gemeindepfarrerin mit Leib und Seele sammelte schon mit 16 Jahren Leitungserfahrung. Vor kurzem ist ihr zweites Buch erschienen. «Rückenwind vom achten Tag» macht Lust, sich gemeinsam einem kirchlichen Erneuerungsprozess zu nähern: Im Hören auf Gott, im ehrlichen Austausch, im Blick auf Geschichte und Umfeld, im Vertrauen auf Gott. Das Gespräch führte Matthias Ackermann
Was hat dich zum Pfarrberuf geführt?
Ich wuchs in Gossau auf und kam dort in Berührung mit einer grossen lebendigen Landeskirche. Diese Kirche, insbesondere Pfarrer Daniel von Orelli, hat in mir die Freude am Kirchenleben entfacht. Schon mit 16 Jahren übernahm ich Leitungsaufgaben in der Kinder- und Jugendarbeit.
Danach habe ich Theologie studiert. Zu dieser Zeit war das als Frau noch recht ungewöhlich. Aber auch dazu wurde ich von Frauen aus der Kirchgemeinde ermutigt. Neben dem Studium wohnte ich in einer Frauenwohngemeinschaft. Das war eine perfekte Kombination: Hier die akademische (eher liberale) Ausbildung, dort das alltägliche Lernfeld – in unserer WG wohnten auch Frauen, die viel Unterstützung nötig hatten.
Wie bekamst du Lust auf Kirchenentwicklung?
In meinem Elternhaus spielte der Glaube keine Rolle. Aber die Kirche, die mich in Kontakt mit dem Glauben brachte, war eine aufbrechende Gemeinde! Sie hat mir die Lust am Gemeindebau, an Gemeindeentwicklung schon früh eingeimpft.
Auch meine erste längere Pfarrstelle in Kappel am Albis trug dazu bei. Hier habe ich gelernt, generationenübergreifend zu arbeiten. In einem 800-Seelen-Dorf kann nicht jede Altersgruppe individuell bedient werden. Ich war übrigens die erste Frau im Kanton Zürich, die ein Einzelpfarramt besetzte.
Dein Buch will nicht ein weiteres Gemeindebaukonzept anbieten. Es geht eher um Fragen nach dem Fundament eines Kirchenentwicklungsprozesses oder der Haltung dabei. Warum?
Weil ich in der Praxis herausgefunden habe, was funktioniert – und was nicht. Wir haben eine «Anleitung» von Michael Douglas versucht – sie hat bei uns nicht so funktioniert, wie das geplant gewesen wäre. Aber wenn wir aus dem Hören auf Gott, aus dem Gebet, aus einem biblischen Text heraus Schritte geplant haben und gegangen sind: Das hat uns weitergebracht.
Wenn wir aus dem Hören auf Gott, aus dem Gebet, aus einem biblischen Text heraus Schritte geplant haben und gegangen sind: Das hat uns weitergebracht.
Eine Geschichte aus Neuseeland zeigt, wie einzigartige Wege Kirchen gehen können: Frauen trafen sich schon länger zum Nähen von Quilts – Decken, wo jede einen Teil beisteuert. Einen Quilt mit biblischen Motiven hängten sie in die Kirche. Die Leute waren begeistert und fragten, ob sie auch nähen dürfen. Daraus entstand eine evangelistische Arbeit. Sie trafen sich und arbeiteten meditierend am Quilt.
Ein solches Projekt kann man nicht einfach kopieren. Es ist aber gut, wenn in einer Kirche die theologischen Grundlagen vorhanden sind. Dann kann die Kirche darauf aufbauend ihren eigenen Weg finden mit den Menschen und Begabungen, die vor Ort da sind. Diese Grundlagen möchte ich mit meinem Buch liefern. Ich schrieb das Buch, das ich gerne gehabt hätte für meine Gemeindearbeit.
Eine solche Grundlage ist z. B. das Selbstverständnis: «Wir sind Kirche.» Nicht: «Wir müssen Kirche werden.» Ist das mehr als eine sprachliche Finesse?
Ja, denn «Wir sind Kirche» hat eine eschatologische Komponente: Wir sind schon, was wir am Ende sein werden – wie Gott uns gedacht hat. Natürlich müssen wir immer von neuem in die Schuhe hineinwachsen, die unsere sind. Das «wir sind» schützt uns auch vor Burnout. Aber wenn das Gefühl überhandnimmt, die Kirche lastet auf deinen Schultern, dann verdrückt es dich. Im Vikariat wird von der ersten Stunde an vor dem Burnout gewarnt – das ist doch bezeichnend!
Das Verständnis, dass Gott selber für die Kirche sorgt, ist zentral. Das heisst nicht, dass wir unsere Verantwortung abschieben. Aber wir müssen nicht hyperaktiv sein.
Das Verständnis, dass Gott selber für die Kirche sorgt, ist zentral. Das heisst nicht, dass wir unsere Verantwortung abschieben. Aber wir müssen nicht hyperaktiv sein. Letztlich kommt Aktivismus und Depression aus dem gleichen falschen Gefühl: dass es ohne mich nicht gut kommt. Das heisst: Auf das Gefühl, dass alles zerbricht, reagieren die einen mit dem depressiven Impuls «wir können sowieso nichts tun – niemand interessiert sich mehr für den Glauben». Andere verfallen in Aktivität und es entsteht viel Druck auf Engagierte und sich selbst, da immer wieder neue Aktionen und Events veranstaltet werden müssen.
Auch wenn wir, was die Kirche betrifft, in einer schwierigen Zeit sind: Die Veränderung im religionssoziologischen Klima kann man auch nicht mit Einzelaktionen stoppen. Man kann sich allenfalls ein wenig dem Wetter anpassen. Entsprechend müssen wir uns auch unserer Grenzen bewusst sein, wenn es um die Erneuerung der Kirche geht. Und handeln, aber aus dem Vertrauen heraus, dass Gott Herr und Besitzer der Kirche ist. Er möchte sie erhalten.
Statt ein Programm betonst du in deinem Buch weiche Faktoren wie Hören oder Lieben. Wie hast du gemerkt, dass diese Faktoren wesentlich sind?
Da es Soft-Facts sind, muss man sie stärker betonen. Hyperaktivität führt uns nicht zum Ziel, sondern das vierfache Hören: Erstens: Hören auf Gott. Zweitens: Hören auf die weltweite Kirche, damit wir keine Schlagseite bekommen. Drittens: Hören auf die (Gaben der) Menschen: Was hättest du Lust zu machen? Viertens: Auf die Bedürfnisse der Welt. Gott will, dass es den Menschen um uns herum gut geht – und nicht dass wir eine schöne Zeit haben.
In Hittnau müssen wir uns nicht um Obdachlose kümmern – im Gegensatz zu Zürich. Lasst uns Hörende sein, und daraus können wir das Handeln ableiten. Hören hält uns abhängig von Gott – wir müssen es immer wieder neu tun. Das ist die Herausforderung: Das Buch gibt keine Garantien, sondern lädt ein zum Vertrauen. Gott will, dass Kirche gelingt!
Lasst uns Hörende sein, und daraus können wir das Handeln ableiten. Hören hält uns abhängig von Gott – wir müssen es immer wieder neu tun.
Das Buch heisst: «Rückenwind vom achten Tag» – ein Bild für den Heiligen Geist. Wie können wir verhindern, dass wir den Heiligen Geist nicht auch mit bestimmten Methoden herbeiholen wollen? Dass er wirken darf, wie er möchte?
Es ist die menschliche Schwerkraft: Wir wollen es im Griff haben! Manchmal meinen christliche Gruppen: Wenn du so und so betest, dann geschieht das und das. Aber Gott schmeisst uns immer wieder in die Ungewissheit und in seine Abhängigkeit. Auch die Bibel zeugt davon und ruft uns immer wieder: Kommt zurück, hört hin! Meint nicht, ihr seid sicher!
Was waren hier in Hittnau die Herausforderungen in einem kirchlichen Erneuerungsprozess?
Mein Mann und ich teilten uns die Pfarrstelle. Als wir in Hittnau begannen, machten wir die eigenartige Erfahrung, dass die Leute ganz viele Ideen hatten. Wir merkten, dass es unter unserem Vorgänger schwierig war, sich einzubringen. Wir wollten den Leuten Mut machen, selber Verantwortung zu übernehmen, sie selber machen lassen.
Wir haben viel investiert in Jugendlager. Ich mache es heute noch, kurz vor meiner Pensionierung – weil es einfach sehr erfüllend ist: Theologie und die Freude am Bibellesen weitergeben; die Zuversicht, dass Gott etwas mit uns vor hat.
Wir möchten, dass die Menschen in der Gemeinde sich ihren Begabungen entsprechend einbringen und dann diesen Raum auch selber gestalten.
Wir beteiligen Leute im Gottesdienst. Wir möchten, dass die Menschen in der Gemeinde sich ihren Begabungen entsprechend einbringen und dann diesen Raum auch selber gestalten – ohne unsere Vorgabe. Es darf anders sein, als wir uns das ausdenken könnten. Das schätzen die Leute.
Welche Bedürfnisse findest du vor in Hittnau?
In diesem kleinen Dorf funktioniert die Nachbarschaftshilfe noch. Trotzdem existiert Einsamkeit bei älteren Menschen. Da hilft unser Besuchsdienst. Wir sind eine junge Gemeinde mit vielen Kindern, also gibt es eine grosse Kinderarbeit. Die Kindertage im Sommer besuchten soeben über 60 Kinder. Beim Weihnachtsmusical wirken 50 Kinder mit.
Unser offenes Gottesdienstformat «Stube-Praise» findet sechs Mal im Jahr statt: Gott loben, Input, Gebet, Gemeinschaft. Das geistliche Fundament ist nach wie vor schmal. Aber wir erleben so etwas wie stille Erweckung: Leute, die plötzlich «auftauchen».
Hast du dir je gewünscht, in einer grossen Kirchgemeinde zu arbeiten?
Nein. Das Job-Sharing mit meinem Mann war perfekt. Hinzu kam die Zusammenarbeit mit Freiwilligen, den Expertinnen für das Leben! Ich habe viel gelernt von älteren Menschen in meinen ersten Jahren.
Die Aufgabe der Theologie ist die Erinnerung: Wer wir als Gemeinde in Gottes Augen sind – damit wir nicht in gewissen Gesetzlichkeiten enden, dass wir das Vertrauen auf Gott immer wieder finden.
Neben meiner Begeisterung für eine Kirche von vielen Freiwilligen bin ich doch der Meinung, dass es neben vielen anderen Berufen auch Theologinnen und Theologen mit einem universitären Studium in den Gemeinden braucht. Die Aufgabe der Theologie ist die Erinnerung: Wer wir als Gemeinde in Gottes Augen sind – damit wir nicht in gewissen Gesetzlichkeiten enden, dass wir das Vertrauen auf Gott immer wieder finden. So wie die Propheten im Alten Testament die Menschen immer wieder zurückriefen in die Beziehung mit Gott, sie lehrten, wie Gott die Welt gemacht hat und was er mit ihr vorhat. Natürlich ist ein Master in Theologie keine Garantie. Aber doch ein gutes Werkzeug, die Bibel zu lesen und zu verstehen.
Im Kapitel «Alter Wein, neuer Wein» machst du dich stark für ein Miteinander von verschiedenen Generationen, Formen, Stil-Richtungen. Warum braucht es auch den alten Wein?
Ich sehe, dass junge Menschen im Aufbruch oft zu wenig wertschätzen, was gewesen ist. Ihre Haltung ist: So, jetzt kommen wir und zeigen, wie es richtig geht. Hier fehlt meines Erachtens die Einbettung: Die Generation vor uns hat schon geackert, wir sehen vielleicht den Samen spriessen, die nächste Generation kann ernten. Diese Sicht gefällt mir. Wir stehen immer auf den Schultern der Generationen vor uns. Oder, wenn Altes sterben muss: Es bitte würdevoll verabschieden.
Jedes Kapitel in deinem Buch enthält Fragen zum Reflektieren in Gruppen. Wie lässt sich solcher Austausch umsetzen? Die Fragen sind anspruchsvoll …
Wir haben oft mit solchen Fragen gearbeitet. Dazu haben wir die Leute jeweils vorgängig geschult und darauf eingestimmt. Die biblischen und theologischen Betrachtungen vor den Fragen sind genau dafür gedacht. Das ist wesentlich für das Gelingen.
Das Gespräch führte Matthias Ackermann
––
Christine Reibenschuh, Dr. theol., Jahrgang 1961, ist Gemeindepfarrerin in Hittnau und geht Mitte 2026 in Pension. Sie engagiert sich bei Churchconvention Schweiz, einem Verein, der sich für eine lebendige Zukunft der Landeskirche einsetzt. Im Jahr 2020 hat sie promoviert über das Thema Beten und Gemeindeaufbau («Das Gebet als Antwort und Herausforderung» auf zora.uzh.ch). 2022 wurde ihr erstes Buch «Gott, warte auf mich» veröffentlicht, 2025 «Rückenwind vom achten Tag». Christine Reibenschuh kann angefragt werden für die Begleitung von kirchlichen Reformprozessen.
Das Buch:
Rückenwind vom achten Tag. Grundlagen für die Gemeindeerneuerung
Arbeitsbuch mit Diskussionsfragen
Für Gemeindegruppen
Kirchenentwicklung praxisnah
Christine Reibenschuh
Theologischer Verlag Zürich, 2025