Referat

Christliche Hoffnung als Wegweiser durch den Nebel

Dr. Stefan Wenger

Hoffnungskompetenz in der christlichen sozialen Arbeit war Thema einer Arbeitstagung im März 2023 am TDS Aarau. Theologe und TDS-Dozent Stefan Wenger gab Impulse zu einer theologisch begründeten Hoffnung. Der vorliegende Artikel ist eine schriftliche Adaption seines Referats.

Elin ist am 27. Januar 2008 aus dem Bauch ihrer Mama in Gottes Gegenwart hineingeboren worden. Elins überaus filigran geschaffener Körper war sehr besonders, und zwar so sehr, dass Elin in unserer Welt nicht hätte leben können. Ihre Eltern haben sich aber – Gott sei Dank! – dafür entschieden, es Elins himmlischem Vater zu überlassen, wann er die Strahlende, so die Bedeutung von Elins wunderschönem Namen, in sein Reich der Liebe hineintragen und für immer bei sich willkommen heissen würde.

Hoffnung – auch am Grab eines Kindes?

Einige Tage später, am 1. Februar 2008, stehen wir an jenem Grab, das für den kleinen Sarg von Elin ausgehoben worden ist. Ich halte die Grabrede und leite später den Abschiedsgottesdienst. Nur: Was sagt man als Pfarrer, was sagt man als Christin oder Christ Eltern am Grab ihrer Tochter? Gut gemeinte Floskeln sollen, dürfen es nicht sein; Worte, die den Schmerz nehmen würden, gibt es nicht. Aber doch vielleicht Worte, die Hoffnung vermitteln, Hoffnung von jenseits des Nebels, Hoffnung von jenseits des Horizonts unserer Zeit und Welt – christliche Hoffnung, begründete Hoffnung.

Petrus schreibt in den 60er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. an sehr angefochtene christliche Gemeinschaften: «Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt» (1. Petrus 3,15 | EÜ). Die angesprochenen Christinnen und Christen sollen also in der Lage sein, jederzeit Rechenschaft ablegen zu können, und zwar nicht etwa über den Glauben, sondern über die Hoffnung, die sie in sich tragen.

Das Christentum ist seit der leiblichen Auferstehung Jesu Christi die Religion der Hoffnung.
Stefan Wenger Theologe, TDS-Dozent

Das ist nicht nur bemerkenswert, sondern auch sachgemäss, denn das Christentum ist seit der leiblichen Auferstehung Jesu Christi die Religion der Hoffnung. Oder anders: Ohne die leibliche Auferstehung Jesu würde das Christentum schlicht nicht existieren. Aber was bedeutet das nun konkret? Was hofft so ein Christenmensch, wenn sie oder er in der Nachfolge des auferstandenen Nazareners lebt?

Um diese Frage beantworten zu können, ist es nötig, einen Blick über das grosse ‘Epos der Hoffnung’ zu gewinnen …

Das grosse Epos der Hoffnung in der Bibel

Die Bibel spricht davon, dass sich der eine wahre Gott – JHWH – als Vater, Sohn und Geist offenbart habe. Dieser Gott wird im Neuen Testament unter anderem und ganz fundamental als Gemeinschaft der Liebe charakterisiert (vgl. 1 Joh 4,8.16). Diese Liebe drängt nach aussen, fliesst über, wird zur Einladung, in die Gemeinschaft des dreieinigen Gottes hineinzutreten, um selbst Teil dieser ewigen Gemeinschaft zu werden.

Diese überfliessende Liebe ist der eine und einzige Grund aller Schöpfung. Deshalb beginnt die Bibel auch mit einer ultimativen Einladung: den Schöpfungsgeschichten. Diese uralten Texte berichten weniger darüber, wie Gott die Welt und alles, was existiert, ins Dasein gerufen hat, als vielmehr darüber, wozu er all das getan hat: Um Gemeinschaft mit seinen Geschöpfen, insbesondere mit seinen Ebenbildern, den Menschen, geniessen zu können. Genesis 1 und 2 sind – theologisch verstanden – vor allem Gottes Einladung an uns: «Seht her, all das habe ich geschaffen, um mit euch, um mit dir Gemeinschaft haben zu können; du bist mir herzlich willkommen!» – Grandioser kann ein religiöses Werk gar nicht eröffnet werden.

Dann aber kommt es anders, als es sich der Dreieinige gewünscht hätte: Die Menschen emanzipieren sich von ihrem himmlischen Vater, von der Quelle ihres Lebens, und verfallen auf diese Weise auch geistlich der Sterblichkeit. Denn der Ewige respektiert die Entscheidung des Menschen – er liebt sie viel zu sehr, um sie gegen ihren Willen zu zwingen – und lässt sie in ihre selbstgewählte Lebensweise ziehen. Das heisst aber auf keinen Fall, dass Gott nicht alles unternommen hätte, um die Gemeinschaft seiner Menschen zurückzugewinnen; er setzt dafür buchstäblich Himmel und Erde in Bewegung.

Das ist das gewaltige ‘Epos der Hoffnung’, von dem die restliche Bibel berichtet: Davon, wie Gott sich dem Abram offenbart, um aus ihm sein Volk heranwachsen zu lassen; davon, wie er sein Volk aus dem Exil in Ägypten ruft und an den Sinai führt, um es dort im Rahmen seines Bundes zum priesterlichen Volk für die Welt zu machen; davon, wie sein Volk zu einer Staatsgemeinschaft unter den Königen David und Salomo wird; davon, wie die immer schneller drehende Abwärtsspirale von Götzendienst und Inhumanität bis ins Exil unter den Babyloniern führt; davon, wie der Neuanfang des frühen Judentums unter Esra zwar gelingt, das Volk aber dann doch schnell wieder in alte Fahrwasser gerät – all das zeigt: Das von Gott erwählte priesterliche Volk braucht selbst Erlösung.

Und so sendet Gott seinen Sohn Jesus, den Christus, den einen wahren Menschen, der selbst keine Erlösung braucht, um diese so sehr emanzipierte, diese so sehr von Gott losgelöste Welt aus ihrer Todverfallenheit zu befreien und in die Gemeinschaft mit sich selbst zurückzurufen. Jesus tut dies, indem er von Gottes angebrochenem und kommendem Königreich spricht und diese Tatsache immer wieder demonstriert. Doch wie hat es Johannes noch formuliert: «Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf» (Joh. 1,11 | EÜ).

Gottes überfliessende Liebe ist der eine und einzige Grund aller Schöpfung.
Stefan Wenger

Am 7. April 30 n. Chr. wird Jesus, der Christus von einem Teil der jüdischen Elite wegen Gotteslästerung zum Tod verurteilt und vom römischen Präfekten Pontius Pilatus als ‘König der Juden’ gekreuzigt. Wenn dies das Ende der Geschichte wäre, würde es für Menschen wie Elins Eltern am Grab ihrer Tochter keine begründete Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrer Tochter geben. «Nun aber» – um es mit keinem Geringeren als Paulus zu sagen – «ist Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen» (1 Kor 15,20 | EÜ).

Auferstehung ist Neuschöpfung

Paulus entfaltet im folgenden literarischen Kontext vor allem eine grundsätzliche Einsicht: Die alte Schöpfung ist von Leiblichkeit bestimmt, die neue Schöpfung ebenfalls; deshalb wird die Auferstehung als Neuschöpfung des Leibes charakterisiert. Der Apostel begründet dies mit verschiedenen Analogien, z. B. Samenkorn – Pflanze. Daraus folgt: Die Kontinuität liegt nicht im irdischen leibseelisch/geistlichen Dasein, sondern allein in der Schöpferhand Gottes.

Auferstehung bedeutet demnach: Wer in einer persönlichen Beziehung mit Jesus Christus lebt, …

  • wird als sie oder er selbst, aber von Gott völlig neu geschaffen, ewig leben,

  • wird die ewige Gemeinschaft mit Gott und seiner erlösten Familie geniessen,

  • wird für immer mehr und mehr in Gottes Bild verwandelt werden.

Oder um es etwas weniger abstrakt, dafür etwas bildhafter zu sagen: Wer als Christin oder Christ in einer persönlichen Beziehung mit Jesus Christus lebt, …

  • segelt dem Horizont seiner Zeit mit einem Lächeln entgegen,

  • wird jenseits des Horizonts erwartet und mit Jubel willkommen geheissen.

Ewige Gemeinschaft mit Gott und seiner Familie

Das grosse ‘Epos der Hoffnung’, das in der Bibel erzählt wird, kulminiert in einem grandiosen Bild: dem himmlischen Jerusalem (vgl. Offb 21,1–22,5). Was Johannes hier sieht und beschreibt, spiegelt nicht weniger als die Vollkommenheitsvorstellung eines antiken Menschen: Die ewige Welt, die ewige Gemeinschaft mit Gott und seiner Familie im Bild einer vollkommenen Stadt, durchdrungen von Gewässern und Gärten, eine lebendige, eine belebende Stadt, die keinen Tempel mehr beherbergt, weil die Stadt selbst ein Bild für die ewige Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott ist: «Und er zeigte mir einen Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall; er geht vom Thron Gottes und des Lammes aus. Zwischen der Strasse der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, steht ein Baum des Lebens. Zwölfmal trägt er Früchte, jeden Monat gibt er seine Frucht; und die Blätter des Baumes dienen zur Heilung der Völker» (Offb 22,1–2 | EÜ).

Es sind die Berichte über die leibliche Auferstehung Jesu Christi, es sind Texte wie derjenige von Paulus in 1 Korinther 15 oder der des greisen Johannes in Offenbarung 21–22, die es mir erlaubt haben, Elins Eltern am Grab ihrer Tochter zusprechen zu können, dass Elin nun bei ihrem und unserem himmlischen Vater sein würde.

Was also sagt man als Christin oder Christ den Gebrochenen, was sagt man den Verzweifelten, was sagt man den Trauernden am Grab ihrer Tochter? Vielleicht dies:

Die lange Nacht der Trauer wird zu Ende gehen – und der Trost der aufgehenden Sonne wird die Schöpfung in heilendes Licht tauchen und die letzte Wirklichkeit der Welt wird eine lange vergessene, unfassbare Freude sein.

Die lange Nacht der Trauer wird zu Ende gehen – und der Trost der aufgehenden Sonne wird die Schöpfung in heilendes Licht tauchen und die letzte Wirklichkeit der Welt wird eine lange vergessene, unfassbare Freude sein.

Oder dies:

Hoffen heisst, bereits jetzt die Musik im Hause des Vaters zu hören.

Ich habe meine Abschiedspredigt im Rahmen der Beerdigung von Elin damals aus tiefer theologischer Überzeugung mit den folgenden Worten beendet: «Liebe Eltern: Ihr werdet eure Elin wiedersehen – im Reich des Lichts, der Liebe und der Freude, im Reich ihres und unseres Vaters im Himmel. An dem ‘Tag’ werden eure Tränen der Trauer in einen Regenbogen der Freude verwandelt werden.»

Diese Botschaft nimmt den Eltern nicht den Schmerz, aber sie vermittelt christliche, sie vermittelt begründete Hoffnung. Denn: Elin, die Strahlende, sieht jetzt Grösseres. 

Dr. theol. Stefan Wenger unterrichtet am TDS Aarau Bibelkunde Altes Testament und Exegese Neues Testament. Ausserdem unterrichtet er am IGW, am ICF College und am ICP in Wisen.