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«Bleib so, wie du bist!»

Rebekka Gloor

Angstfrei Beständigkeit und Veränderung leben

Die Klientin fasst kurz vor Ende der Beratungssequenz den Mut, das eigentliche Thema anzusprechen. Jetzt ist es auf dem Tisch! Vor dem nächsten Termin mit ihr überlege ich, wie wir das Thema angehen können. Ich bereite mich vor und investiere Zeit. Beim nächsten Wiedersehen meint sie: «Ach das! Das ist nicht mehr aktuell, heute beschäftigt mich etwas ganz anderes.» Meine Investition hätte ich mir sparen können.

«Bleib so, wie du bist!»

In der geschilderten Situation hätte ich mir ein wenig mehr Beständigkeit gewünscht. Insgesamt möchte ich den Begriff Beständigkeit jedoch differenzierter betrachten. Am Beispiel des bekannten Geburtstagsgrusses – «Bleib so, wie du bist!» – etwa: Ja, ich bin in Ordnung. Aber brauche ich deswegen keine Veränderung? Oder andersherum: Kann ich mich verändern – und doch beständig bleiben?

Menschen brauchen Beständigkeit und Verlässlichkeit. Dies zeigt ein Blick auf unseren Tagesablauf: Aufstehen, Morgentoilette, Frühstücken, Alltag … Viele Abläufe sind automatisiert. Wir können sie ausführen, ohne bewusst nachzudenken. Wenn wir in unseren Gewohnheiten, in unserer Komfortzone bleiben, schüttet unser Hirn Endorphine aus. Diese reduzieren Stress, wirken schmerzhemmend und machen glücklich. Gleichbleibendes in unserem Leben gibt uns Stabilität, Halt, Sicherheit und Struktur.

Neue Situationen, Veränderungen und Herausforderungen hingegen können Stress auslösen, erfordern eine Reaktion, eine Anpassung. Sie können aber auch als gesunde Bedürfnisse erlebt werden. Der deutsche Psychoanalytiker Fritz Riemann hat in seinem Psychologie-Klassiker «Grundformen der Angst» diese Ambivalenz des Menschen sehr treffend beschrieben. Demnach existiert neben der Sehnsucht nach Beständigkeit respektive nach Wandlung ebenso die Angst vor dem jeweils entgegengesetzten Pol.

Veränderung – Bedürfnis und Gefahr

Unser Wunsch nach Beständigkeit kann sich zeigen in unserer Angst vor Veränderung, Wandel und Unsicherheit. Die Angst vor einem Veränderungsschritt veranschaulicht dieses Bild: Um einen Schritt zu machen muss ein Fuss für kurze Zeit den Boden verlassen. Ebenso ist jeder Veränderungsschritt mit einer vorübergehenden Instabilität verbunden.

Anderseits kann Angst auch Antrieb zu einer Veränderung sein: Die Angst vor Stagnation, Einschränkung, Unfreiheit und Endgültigkeit. Hier wird die Veränderung durch das Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung und dem Reiz des Neuen angestossen.

Unser Wunsch nach Beständigkeit kann sich zeigen in unserer Angst vor Veränderung, ­Wandel und Unsicherheit. Anderseits kann Angst auch Antrieb zu einer Veränderung sein.
Rebekka Gloor Psychosoziale Beraterin

Ängste können auch krankhafte Züge annehmen: Das Bedürfnis nach Beständigkeit kann zu zwanghaftem und starrem Denken und Handeln führen. Dann geschieht kein Wachstum mehr, die Lebendigkeit geht verloren. Will hingegen Veränderung um jeden Preis herbeigeführt werden, kann eine schwankende Gemütslage mit starken emotionalen Ausbrüchen die Folge sein. Alles ist in Bewegung, alles wird instabil, man ist rastlos unterwegs. Zwei Extremformen – Schwarz und Weiss.

Beide Bedürfnispole – Beständigkeit und Veränderung – gehören zu uns und stehen in einer gewissen Spannung zueinander. Sie wird pointiert ausgedrückt in einer Aussage der Schweizer Musikerin und Moderatorin Cachita (24) über die «Generation Z». Diese habe eine riesige Sehnsucht nach beständiger Liebe und gleichzeitig eine enorme Angst davor, sich zu binden und Verantwortung diesbezüglich zu übernehmen.

In der Paarberatung begegnet mir diese Ambivalenz oft in dieser Tendenz: Männer wollen, dass ihre Frauen so bleiben, wie sie sie kennengelernt haben; Frauen wollen ihre Männer verändern.

Auflösung der Beständigkeit

Das Leben meiner Grosseltern war geprägt von Beständigkeit: Ein Leben lang der gleiche Beruf, derselbe Wohnort, die gleiche Frau bzw. der gleiche Mann, der sonntägliche Kirchgang. Für meine Grosseltern war klar, dass es äussere Autoritäten gab, die darüber bestimmen, wer sie sind oder zu sein haben: Gott, die eigenen Eltern, gewisse gesellschaftliche Normen usw.

Persönlichkeiten wie Friedrich Nietzsche oder Sigmund Freud gaben Anstösse dazu, diese Beständigkeit und vor allem die Einschränkungen, die sie mit sich bringt, zu hinterfragen und Stück für Stück aufzulösen. Die Themen meiner Klientinnen und Klienten widerspiegeln die Auflösung dieser Beständigkeit: Diverse Berufsabbrüche oder Berufsabschlüsse, häufige Wohnortswechsel, Unsicherheiten in Bezug auf das eigene Geschlecht, verschiedene Partnerschaften ihrer Eltern nach deren Trennung und Partnerwechsel in der eigenen Biografie. Stress, Unzufriedenheit, Orientierungslosigkeit, innere Anspannung und die Unfähigkeit, zur Ruhe zu kommen, sind nur ein paar Auswirkungen davon.

Die Sehnsucht wächst

In Gesprächen erlebe ich aber auch, dass die Sehnsucht nach mehr Stabilität gerade bei der jüngeren Generation wieder wächst. Sie bestätigt meine Überzeugung: Inmitten von Veränderung brauchen wir Fixpunkte, um den Halt nicht zu verlieren.

Die Pirouetten-Tänzerin veranschaulicht dies: Ihr Blick fixiert den festen Punkt möglichst lange, während sich ihr Körper dreht. Mit einiger Übung gelingt diese Koordination zwischen Blick und Körper. Die Tänzerin kann sich orientieren und sich trotzdem drehen und bewegen.

Die Tänzerin kann sich orientieren und sich trotzdem drehen und bewegen.

So gehe ich mit meinen Klientinnen und Klienten der Frage nach, wo sie beständig sind. Wir reflektieren, ob diese Beständigkeit gelingendes Leben fördert – für sie selbst und für ihr Umfeld. Dann machen wir uns auf die Suche nach einem Fixpunkt, von dem aus gesunde Bewegung oder eben Veränderung möglich wird.

Auch die Sozialdiakonie in unseren Kirchen kann Menschen dabei unterstützen, den beständigen Punkt in ihrem Leben zu finden: Jesus Christus, derselbe gestern, heute und in Ewigkeit – egal wie schnell die Welt sich dreht … 

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Rebekka Gloor ist TDS-Absolventin und arbeitet als psychosoziale Beraterin in eigener Praxis in Zofingen.
www.perspektiven-gewinnen.ch

Foto von Ahmad Odeh auf Unsplash