Bericht

Sozialräume erkunden: Lenzburg und Kirchberg

Matthias Ackermann

Die Methode der Sozialraumanalyse wird seit 2019 als eigenständiges Modul im Diplomstudiengang Sozialdiakonie mit Gemeindeanimation HF unterrichtet. Seit 2020 ist Urs von Orelli daran, die Methode auf die Diakonie und Kirchentwicklung allgemein zu übertragen. Unterdessen gehört die Sozialraumanalyse zum Unterricht am TDS Aarau. Doch es gibt noch kaum eine (Kirchen-)Entwicklung, ausgelöst durch solche Arbeiten – zu jung ist das Thema. Zwei Sozialraumanalysen aus der Nachqualifikation werden hier vorgestellt. Die erste könnte der Stadtplanung dienen, die zweite stiess bereits einen kirchlichen Umbruch an.

Quartier im Lenz: Bedürfnisse

Esther Beyeler wollte wieder mal eine Weiterbildung machen. Nach ihrem TDS-Abschluss im 2000 arbeitete sie einige Jahre als Sozialdiakonin. Dann kam eine längere Kinderpause und seit ein paar Jahren arbeitet sie teilzeitlich für die Dienstleistung Begleitetes Wohnen von Pro Infirmis.

Sie selbst wohnt schon lange in Lenzburg. Für ihre Arbeit hat sie sich umgeschaut nach einem Projekt in Lenzburg. Das Quartier Lenz wurde mehrfach erwähnt und hat auch einen imposanten Web-Auftritt. Es entstand auf einem ehemaligen Firmenareal und wurde neu konzipiert als «zukunftsweisender» Stadtteil. Unter dem Slogan «Wohnen – Arbeiten – Erleben» wird für ein ökologisches Miteinander geworben: Das Zusammenleben von Alt und Jung (Kita und Pflegeheim), Wohnen und Arbeiten im gleichen Quartier (neben den Wohnblöcken werden auch Geschäftsräume vermietet) und ein geringer ökologischer Fussabdruck (Fussdistanz zum Bahnhof Lenzburg, Unverpackt-Laden) werden hochgehalten. Das Areal wurde zwischen 2015 und 2018 bezogen.

Im Gespräch mit einer Stadträtin wurde klar, dass die Realität heute von der ursprünglichen Vision abweicht: Die Bestrebungen nach einem lebendigen Miteinander zeigen sich nicht erfüllt.

Eine spannende Ausgangslage für eine Arbeit, dachte sie. So ging sie ans Werk mit den Methoden, die sie in der Nachqualifikation (1) gelernt hatte. Sie besuchte das Quartier mehrmals und führte informelle Gespräche. Sie recherchierte im Internet. Anschliessend formulierte sie sechs subjektive Hypothesen. Die eigentliche Arbeit bestand nun daraus, diese Thesen zu objektivieren. Dies geschah mit vier Methoden:

  1. Analyse der Kenndaten der Einwohnerkontrolle Lenzburg

  2. Interviews mit Stadträtin, Bewohnerin und einem Einwohnerrat mit Bezug zum Quartier Lenz

  3. Online-Umfrage mit über 100 Antworten (bei 946 Personen im Quartier)

  4. Kinderquartierspionage (Das Quartier wird aus der Perspektive der Kinder betrachtet und ihre Bedürfnisse werden erfasst.) 

Zwei solcher Thesen werden hier exemplarisch wiedergegeben:

Die Wohnqualität

Hypothese: Die Wohnqualität im Quartier Im Lenz ist hoch und wird kaum durch äussere Faktoren beeinträchtigt.

Fazit: Die Hypothese trifft zu. Die Wohnqualität im Quartier Im Lenz ist wie erwartet hoch. Die Neubauwohnungen und die positiven Bewertungen in vielen Aspekten der Wohnumgebung bestätigen dies.

Bedürfnis: Die Bewohner nennen auch einzelne Faktoren, welche die Wohnqualität noch verbessern könnten. Sie wurden im Massnahmenkatalog aufgenommen.

Nachbarschaft

Hypothese: Die Bewohnenden haben kaum Kontakt untereinander und sind nicht vernetzt.

Fazit: Die Hypothese trifft zu. Die Analyse zeigt, dass die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner wenig oder gar nicht vernetzt sind im Quartier.

Fast die Hälfte aller Befragten gibt an, dass es schwierig sei, Nachbarn kennenzulernen.

Als Gründe werden genannt: Fehlende Nahversorgung im Quartier selbst, Mangel an Angeboten im Freiraum des Quartiers. Eine zusätzliche Herausforderung ist die hohe Fluktuationsrate im Quartier.

Bedürfnis: Die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers würden eine lebendigere Nachbarschaft begrüssen. Diese könnte durch gezielte Massnahmen gefördert werden.

Persönliche Bereicherung und Betroffenheit

Was nimmt Esther Beyeler mit aus der Sozialraumanalyse? Was kann sie weitergeben? Esther Beyeler fand es spannend, sich wieder einmal in ein Thema zu vertiefen und sozialen und gesellschaftlichen Fragen auf den Grund zu gehen. Die Resultate der Sozialraumanalyse hätten sie betroffen gemacht: «Es hat mich erschreckt, wie wenig sich die jungen Menschen kennen», meint Esther. «Es gab Anregungen und Angebote im Quartier, und offenbar bestünde auch ein Bedürfnis nach Gemeinschaft.» Aber es zeige vielleicht die Realität: «Menschen, die sich nur vorübergehend niederlassen, keine Kontakte suchen – und trotzdem zufrieden sind.» Und was könnte eine Kirche beitragen in einem solchen Quartier? Esther ist unsicher – «es ist oberflächlich betrachtet kein sozialer Brennpunkt ...» – und lässt die Frage offen.

Es hat mich erschreckt, wie wenig sich die jungen Menschen kennen.
Esther Beyeler Autorin Sozialraumanalyse «Im Lenz»

Rückmeldung an Stadträtin

Für ein sog. Experteninterview kontaktierte Esther Beyeler die Stadträtin. Diese erläuterte: «Das Lenz-Quartier war ein erstes Projekt nach dem Prinzip des verdichteten Bauens. Heute würde ich eine solche Quartierplanung anders angehen. Ich würde ein Quartier organischer wachsen lassen.» Das würde aber bedingen, die wirtschaftlichen Interessen gegenüber den gesellschaftspolitischen zurückzustellen.

Ob Esthers Arbeit einen Einfluss auf die künftige Stadt- und Quartierplanung hat, ist momentan noch offen.

Rückblickend auf die Nachqualifikation am TDS Aarau meint Esther: «Die Analyse war sehr interessant. Aber was machen wir nun damit? Was können wir als Einzelperson, als Kirche, als Institution dem ‘Sozialraum’ nun anbieten?» Dies müsste in einem nächsten Schritt konkret im Dialog mit den Beteiligten diskutiert werden.

Kirche Kirchberg: Begegnung unter freiem Himmel

Spannend an der Sozialraumanalyse von Stefan Grunder ist, dass wir heute bereits die Früchte davon sehen können. Stefan wollte mit ihr ein langjähriges Dilemma lösen: Die Bedürfnisse der Altersgruppe von 20–50-Jährigen kennenlernen und Strukturen in der Kirche schaffen, die diesen Bedürfnissen Raum gibt.

Mehrere Anläufe versandeten

Die Kirchgemeinde Kirchberg ist bekannt für ihre innovative Jugendarbeit. Die nachfolgende Generation der (jungen) Erwachsenen fühlt sich jedoch nicht abgeholt von der Kirche: Sie vermisst eine ihnen angepasste Gottesdienstform sowie die Möglichkeit zur Mitgestaltung des kirchlichen Lebens. Verschiedene Anläufe und Projekte in den letzten zehn Jahren sind angestossen aber nie umgesetzt worden. Im Jahr 2021 wollte man mit einer externen Begleitung einen neuen Anlauf nehmen. Die Arbeitsgruppe «strategische Entwicklung» wurde gegründet. Jugendarbeiter und TDS-Absolvent Stefan Grunder war Mitinitiator. Bald kam die Idee auf, als Grundlage den «vermeintlichen Umweg» einer Sozialraumanalyse durchzuführen.

Parallel dazu besuchte Stefan die Nachqualifikation «Gemeindeanimation» am TDS Aarau. Naheliegend also, die Sozialraumanalyse für die Kirche Kirchberg als Schlussarbeit seiner Weiterbildung durchzuführen.

Neue Zuhör-Kultur

Die Sozialraumanalyse stiess schon in der Durchführung eine neue Kultur an. Zehn Personen mit unterschiedlichen Funktionen in der Kirche beteiligten sich: Kirchenmitglieder zwischen 20 und 70 Jahren – einige wenige Angestellte, vor allem aber Freiwillige.

Man wählte die Methode «Dialogisches Hören». Stefan Grunder beschreibt sie in seiner Schlussarbeit so: «Im Dialogischen Interview werden nicht vordergründig zielgerichtete Fragen gestellt, sondern offene Fragen. Das Nichtwissen, was die Zukunft für die Kirchgemeinde bringt, bildet die Basis. Die Expertin oder der Experte ist das Gegenüber. ‘Mäandernd’ (wie ein Fluss) soll dem Gegenüber gefolgt werden und nicht mit einer journalistischen Neugier.»

Die Zuhör-Kultur ist zu einem Schlüssel für die angestrebte Kirchenkultur und den gesamten Strategieprozess geworden.
Stefan Grunder Sozialdiakon Kirche Kirchberg BE

Die Gespräche wurden mit unterschiedlichsten Personen geführt: Kirchenmitglieder, aber bewusst auch kirchendistanzierte Personen, freiwillig Engagierte bis hin zum Gemeindepräsidenten. Es gab insgesamt 50 Interviews, die bis zu zwei Stunden dauerten. Stefan Grunder: «Die Gespräche hatten auch einen seelsorgerlichen Charakter und sind für das Gegenüber und den ganzen Prozess sehr wichtig gewesen.» Diese Zuhör-Kultur sei zu einem Schlüssel für die angestrebte Kirchenkultur und den gesamten Strategieprozess geworden.

Eine mutigere Kirche

Der Prozess führte unter anderem diese Bedürfnisse zutage:

  • Mehr Raum für Begegnungen – im übertragenen Sinn und konkret.

  • Agilere Strukturen. Prozesse sollen rasch in Gang gebracht werden können – trotz unfertiger Konzepte.

  • Lebendigere Gottesdienste

  • Teil sein, «mitmachen statt konsumieren».

  • Eine mutigere Kirche.

Nutzen statt warten

Ein längst hängiger Entscheid bot sich sozusagen als Prototyp für die Umsetzung der Strategie an. Es bestand bisher kein Konsens darüber, ob das Pfarrhaus weiterhin einer Pfarrperson als Dienstwohnung zur Verfügung steht oder ob es zukünftig anders genutzt werden soll. Auch dazu wurden bei der Befragung Meinungen eingeholt. An der darauffolgenden Kirchgemeindeversammlung wurde dem Kirchenrat ein Argumentarium und ein Vorschlag für die Umnutzung vorgelegt. Die Umnutzung erhielt fast 100 % Zustimmung – eine grosse Ermutigung für das Strategieteam. Der Wermutstropfen dabei: Auflagen und Warten auf Bewilligungen von Regierungsstatthalteramt und Denkmalschutz werden die Umnutzung um viele Monate verzögern.

Anstatt diesem Umstand mit Frustration zu begegnen und den Erfolg des ganzen Projekts zu gefährden, kam Stefan Grunder folgende Idee: Wenn auch das Haus noch nicht benutzbar ist – der Garten kann ab sofort (um)genutzt werden. Ein positiver Nebeneffekt: Das Gartenprojekt dient als Übungsfeld für die Umnutzung des gesamten Pfarrhauses. So startete im Sommer 2023 ein erstes Projekt aufgrund der Sozialraumanalyse: Der Garten Eden.

Garten Eden

Der Pfarrhausgarten ist nun seit Mai 2023 offen für alle. Das Ziel ist, Gemeinschaft und Begegnungen zu ermöglichen. Man kann vorbeikommen und die ruhige und wunderschöne Atmosphäre geniessen. Oder man stellt ein kleineres oder grösseres Projekt auf die Beine. Die Bedingung: Es muss öffentlich sein. So finden sich seit letztem Sommer immer wieder Alt und Jung ein zum Spielen, Gärtnern, Kaffee trinken, Grillieren. Eine grosse Kugelbahn entstand – als Alternative zum Trampolin, welches die Sicherheitsvorschriften nicht erfüllte.

Der Pfarrhausgarten wird geöffnet und neu belebt.
Kinderflohmarkt im Garten Eden

Gelingen trotz Limiten

In Sozialdiakon Stefan Grunder steckt einerseits ein umtriebiger Charakter. Er hat viele Ideen für ein partizipatives Miteinander; um Gemeinschaft und Kreativität zu ermöglichen gibt es für ihn kaum Hindernisse. Er selber drückt es so aus: «Ich suche nicht Aufgaben, Projekte oder meine Berufung, sondern umgekehrt: Diese suchen mich.»

Anderseits ist er limitiert. Sein Pensum, seine Gesundheit sowie divergierende Interessen innerhalb des Angestelltenteams setzen seinen Visionen Grenzen. Trotzdem habe er immer wieder erlebt: Durch geschickte «Handgriffe» kann plötzlich etwas sehr schnell gelingen, was vorher jahrelang brach lag. Solche Handgriffe können sein: Vernetzung und Einbezug von Akteuren wie Schlüsselpersonen aus der Zielgruppe; Agilität, d. h. Abweichen von der eigenen Vorstellung und die Fähigkeit, sich an die Rahmenbedingungen anzupassen.

Als Beispiel nennt er den erweiterten Jugendraum, den er vor vielen Jahren in kurzer Zeit dazunutzen konnte: Mit Hilfe von Jugendlichen und einem Schreiner. Oder den Lichterweg in einem Corona-Advent, wo sogar der Gemeindepräsident als Samichlaus mitmachte.

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(1) Die Nachqualifikation war ein Lehrgang zum Erwerb des Diploms in Gemeindeanimation HF für TDS-Absolventinnen und -Absolventen von früheren Jahrgängen.

Website des Lenz-Quartiers

Garten Eden auf der Website der Kirche Kirchberg